2012-10-29

Thomas Wettengel: TODO LIST UND TÜCKE

Prokrastination ist nicht auf spezielle Tätigkeiten oder Aufgaben begrenzt. Im Prinzip lässt sich alles Machbare aufschieben, sogar vollkommen Unumgängliches kann man bequem unterlassen. (S.15) 'Kurze Einführung in die Prokrastination' hätten die Autoren das Buch auch überschreiben können. Wahrscheinlich stand es mal zur Debatte, dann auf irgend einer Todo-Liste, dann ging es verloren, wie so vieles im Leben eines LOBO verloren geht. Wenn Sie Besitzer eines der erfolgreichsten Handys des beginnenden Jahrtausends sind, nämlich eines Motorola RAZR der ersten Generation, dann versuchen Sie bitte jetzt, die Tastentöne auszuschalten. Oder die tastentöne anzuschalten, wenn sie schon aus sind. Alle anderen können in dieser Zeit das Buch durchlesen und vielleicht noch ein eigenes hinterher schreiben. (S.30) Dieses Buch liest sich wirklich gut weg, und trotz des offensichtlich aufmerksamen Lektorats ist der Leser auch froh, dass sich das Buch so gut liest. Es gibt hier keinen tieferen Sinn als den, das Aufschiebeverhalten in allen möglichen Varianten durchzuspielen. Ein LOBO ('Lifestyle Of bad Organization') würde sich das Buch kaufen. Nicht der Aufschiebende ist lebensuntauglich, vielmehr ist sein Umfeld mit falschen Erwartungen und überkomplizierten Organisationsstrukturen verseucht. (S.45) Die letzte Rezension ist schon lange her, aber warum erwartet ihr auch so viel von mir. Es gibt schließlich auch noch weniger aufschiebbare Dinge als die Rezension eines Prokrastinationsratgebers. Das protestantische Arbeitsethos der reformatorischen Bewegung im 16. Jahrhundert ist die Keimzelle des schlechten Gewissens, das wir bekommen, wenn wir uns nicht ständig Mühe geben und nicht bei jeder Aufgabe an unsere Grenzen gehen. Der Urvater dieser lästigen Arbeitsauffassung hatte einen der hässlichstvorstellbaren Namen, der zudem als 'telling name' verstanden werden möchte: der Schweizer Reformator Huldrych Zwingli. (S.60) Es müssen auch einmal Schuldige benannt werden, weil sich Aufschiebung und Arbeit, verstanden eigentlich als Leistung, nicht vertragen. Auch Freunde der Arbeitszeitdebatten werden einiges an diesem Buch lesenwert finden. Der Mensch ist erwiesenermaßen am glücklichsten, wenn er arbeitet, und zwar dann, wenn es sich um eine schaffbare, aber fordernde und vor allem selbstgewählte Aufgabe handelt. Nur dann gelangt man in den Flow-Zustand, der so heißt, weil er einen bei der Arbeit Zeit und Raum vergessen lässt; der Flow-Zustand ist so etwas wie der Heilige Gral der Motivation und damit der Arbeit. (S.75) Marx ante portas. Die mehr oder weniger ausführliche, meistens aber eklektizistische Diskussion von Fachliteratur wechselt mit hingerotzten, launischen Statements und Beichten bekennender Prokrastinierer ab. Die Freude an einer Tätigkeit ist eigentlich schon Rechtfertigung genug. (S.90) Das ist dem Kritiker dann doch zu naiv. Wenn es dem Scharfschützen Freude bereitet, Menschen wie Großwild abzuschießen, ist das noch lange keine Rechtfertigung für seine Tätigkeit. Dem Moralphilosophen bieten die Co-Autoren Sascha Lobo und Kathrin Passig riesige Angriffsflächen. Vielleicht tun sie das einfach aus Faulheit. Viele Aufgaben sind objektiv sinnlos, und man spart viel Zeit und Mühe, indem man sie einfach unterlässt. (S.105) Sätze wie dieser finden sich alle zwei bis drei Seiten. Für Redundanzerlebnisse ist also gesorgt. Hier hätte gekürzt werden können. Das Buch hätte sich auch mit weniger als 200 Druckseiten gut verkaufen lassen. Die aus einer Laune heraus entwickelte Systematik des Zitierens in 15-Seiten-Schritten ehrt den Rezensenten nicht, beweist aber seinen Sinn für Gründlichkeit. Das Pareto-Prinzip besagt, dass die letzten 20 Prozent einer Arbeit 80 Prozent der aufgewendeten Zeit und Mühe kosten - was umgekehrt aber auch bedeutet, dass nach 20 Prozent der Zeit die Arbeit schon zu 80 Prozent erledigt ist. Damit sind nicht die ersten 20 Prozent der Zeit gemeint, die man sich für eine bestimmte Aufgabe eingeräumt hat (in denen passiert natürlich gar nichts, jedenfalls nichts, was mit dieser Aufgabe zu tun hätte). (S.120f.) Wer schon einmal schriftliche Arbeiten abzuliefern hatte, kann mit dieser höheren Mathematik der Prokrastination etwas anfangen, ja fühlt sich sogar bestätigt und erleichtert, am Ende sogar verstanden, oder wie es Goethe sagte: 'Wer vielen etwas bringt, wird manchem etwas bringen'. Und sei es auch nur Schmutz. Aber aus einer ohne bewusstes Nachdenken ablaufenden Handlung, der man sich nur um den Preis verweigern konnte, sich sehr weit außerhalb der Gesellschaft zu stellen, ist inzwischen eine Aufgabe geworden, die man hinterfragen darf und deshalb ständig hinterfragt. (S.135) Schmutz ist, wen wundert es, gar nicht so schmutzig, wie er aussieht, wenn man die Festbeleuchtung anstellt. Auf den Seiten 149-151 befindet sich ein dicker grauer Bekenntnisblock des Sascha Lobo, der auszog, um fit zu werden. "Der Zeitpunkt, einen Steuerberater Rotz und Wasser heulend aufzusuchen, ist spätestens dann gekommen, wenn man die vom Finanzamt verlangte Steuererklärung über längere Zeit aufschiebt und plötzlich überraschend geschätzt wird. Geschätzt werden ist das Gegenteil von geschätzt sein, denn nun ist man für das Finanzamt bis zum Beweis des Gegenteils ein Schlingel. Schätzungen des Finanzamts sind oft verhältnismäßig hoch, weil sie eine starke Motivation beinhalten sollen, innerhalb weniger Tage eine Steuererklärung abzugeben. (S.165. So kommen wir in den Bereich der 1000 ganz legalen Steuertricks für den LOBO. Hier wie in anderen Kapiteln des stellenweise penetrant als Ratgeber agierenden Buches (irgendwann hat der Leser die Ironie verstanden) gibt es Tipps und Ratschläge für den Umgang mit der bösen, weiten Welt. Man ist auch sonst ganz bürgerbewegt im weiteren Verlauf des Buches. Jeder, der an seinen letzten Amtsbesuch gegen 1987 mit Entsetzen zurückdenkt, wird jedoch von der neuen Serviceorientierung der Bürgerämter positiv überrascht werden: Es hat sich etwas geändert, vielleicht, weil genügend Menschen ungeduldig herumgemosert haben. (S.180f.) So einfach ist das. So einfach entstehen auch Rezensionen, nämlich als Form und Inhalt gewordene Ausreden, warum der Rezensent jetzt gerade kein Restaurant reservieren und kein Geschenk für seine Frau aussuchen kann. Das lässt sich alles aufschieben, und im Aufschieben und den Begleithandlungen wird meistens mehr Produktivität freigesetzt als in der eigentlichen Arbeit. Der Vorteil am Zwang ist, dass er wie das Wollen keine Selbstdisziplin erfordert. (S.195) Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Habe ich einfach zu zwanghaft darüber nachgedacht? Liegt es einfach daran, dass der äußere Schweinehund im Unterschied zum inneren sehr wohl zur Mannschärfe neigt? Dann googelt mal schön. Fertig? Gut. Wer nach Abwägung der Vor- und Nachteile zumindest ausprobieren möchte, ob Ritalin seine Probleme lindert, der schildere einem Arzt, am besten einem Neurologen oder Psychiater, seine Prokrastinationsprobleme oder entleihe eine Testportion beim hyperaktiven Schulkind seines Vertrauens. (S.210) Eine Apothekenrundschau darf in keinem guten Vorabendbuch fehlen. Wer an einer Rehabilitation des als Kinderruhigstellmedikament gebrandmarkten Ritalins interessiert ist, findet hier auch das eine oder andere Argument. Auf den Sieten 224-225 findet sich das erschütternde Bekenntnis einer chronisch prokrastinierenden Harfenistin. Die Planning Fallacy besagt, dass die meisten Menschen beim Planen von Projekten und beim Fassen von Vorsätzen dieselben drei Fehler machen: Erstens unterschätzen sie die benötigte Zeit. Zweitens nehmen sie an, in Zukunft stünde mehr Zeit zur Verfügung als in der Gegenwart. Und drittens gehen sie davon aus, in dieser goldenen Zukunft selbst bessere Menschen geworden zu sein, die weniger prokrastinieren. (S.241) Der Rezensent bricht seine selbst gesetzte Regel. Hat das einen besonderen Grund? Nein. Ich möchte mich aber trotzdem dafür entschuldigen. Das Zitat war einfach zu interessant, interessanter jedenfalls als die möglichen Zitate auf der Seite 240. Eine ehrliche Entschuldigung verbessert nicht nur das Verhältnis zwischen den Beteiligten, oft verschafft sie einem auch selbst erhebliche psychische Entlastung. (S.255) Der Rezensent hat das oft genug ausprobiert, das letzte Mal in der vorigen Woche auf einer Schulung. Als Geschulter war er in der Position des Schülers und so davon entlastet, perfekt sein zu müssen. Dass der Chef dann auch ein Einsehen und es nicht so schlimm findet, wenn der Untergebene nicht 3 mal 4 rechnen kann, ist nicht natürlich, sondern einer bestimmten Entschuldigungsstrategie geschuldet. Banken führen Privatkonten überhaupt nur, weil es Menschen gibt, die ständig ihren Dispo bis zur Oberkante ausreizen und dafür schöne Zinsen zahlen. (S.270) Fühlt sich jemand angesprochen? Ein Glossar am Ende des Buches verstärkt den wissenschaftlichen Tarnanstrich des Buches und trägt, ähnlich der Gliederung und der ausgewählten, am Anfang jedes Kapitels auftauchenden Zitate, zum Zusammenhalt dieses Buches bei, dessen Stärken vor allem in der Persiflage des Ratgebergenres liegen. [Kathrin Passig/Sascha Lobo: Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011. 9 Euro.]