2010-02-21

SPUREN



Oft glaubte ich ein Pfeifen zu hören, woher es kam wusste ich nicht zu sagen, das Pfeifen war jedenfalls in meinem Kopf. Jemand war auf mich als Hund gekommen, und ich hechelte und suchte nach meinem Herrchen, stellte die Lauscher auf, und das Pfeifen wurde zum Summen, das Summen zum Dröhnen in meinem Kopf. Ich konnte die Antwort nicht geben, dem Befehl nicht Folge leisten, oder hatte sich jemand verpfiffen, oder mich. Ich hatte ja gehört, verdammt noch mal.
Das Schwindelgefühl war so stark, dass ich mich an einem der Regale festhalten musste, um nicht hinzustürzen. Mir wurde schwarz vor Augen, die Welt summte wie ein Bienenschwarm. Nach einigen Momenten, in denen ich nicht wusste, ob ich mich auf den Beinen halten oder lang hinschlagen würde, kam ich wieder zu Bewusstsein. Was blieb, war ein Ohrensausen und das Gefühl äußerster Verwundbarkeit, das mich von allen anderen unterschied. Als Jugendlicher war ich in einem Ferienlager ohnmächtig geworden, nachdem ich den Tag über nichts gegessen und nur wenig getrunken hatte. Es war Sommer. Ich war im Flur eines Hauses zusammengebrochen, halb auf der Schwelle zu einem Raum. Wie lange ich ohne Bewusstsein war, weiß ich bis heute nicht. Die ausgelöschten Augenblicke erschienen mir immer sehr rätselhaft. In der Tschechoslowakei, die damals noch existierte und wo das bewusste Ferienlager stattfand in dem ich zusammenbrach, hatte die Familie meines Großvaters mütterlicherseits gelebt, erst im Sudetenland, später in Prag. Dessen Vater, geboren in einer kleinen Industriestadt im Sudetenland und später Redakteur der Roten Fahne in Prag, war der Verhaftung durch die deutschen Besatzer mehrmals entgangen. Seine Spur verliert sich während des Krieges irgendwo in den polnischen Wäldern. Ob sein Leben vor den Gewehrläufen eines SS-Kommandos oder im Gulag endete, ist unbekannt.
Mir ist in gesundem Zustand nichts anzusehen, nur hin und wieder taumele ich, wie es die Betrunkenen tun, und presse dazu die Ohren mit den Händen, den festen Boden mit den Augen suchend. Ich stoße an Ecken, verliere das Gefühl für die Entfernung zum Türrahmen, hole mir blaue Flecken, kleine Schürfwunden. Ungeschicklichkeiten eben, die sich nicht schicken für einen, der geradeaus will. Ich spreche wenig, um nicht anzuecken, spreche hastig, verhasple mich, stolpere. Dann umstehen sie mich wieder, fragende Stirnen, schwankende Gestalten. Oft strecke ich wie blind eine Hand aus, um an Wänden und unter Türen mir meinen Weg zu ertasten. Gerate ich in einen solchen Zustand, wachsen die Wände und Decken nach Belieben, die ganze Geometrie des Raums verändert sich, schleudert mich hin und her, vor und zurück, eine Kollision zieht die nächste nach sich. Es kommt auch vor, dass ich, schreiend und fluchend und unzusammenhängende Worte redend, taumelnd über Straßen und Plätze und durch Fußgängerzonen laufe. Man kann nicht behaupten, dass ich verkehrsfähig wäre. Die Passanten machen einen Bogen um mich. Wenn ich vor Schmerzen fast besinnungslos werde, wenn sie alles ausfüllen und ich das Gefühl habe, dass mir der Kopf explodiert, schlage ich mich kräftig mit den Fäusten oder renne den Kopf gegen eine Wand, bis Blut kommt und ich erschöpft, fast glücklich, zu Boden sinke.
In diesem Lager hatte ich meine Ferien verbracht, wie in den Jahren zuvor. Es war ein Sommer in Lagern. Mir hatte das nichts ausgemacht, ich hatte mich an diesem Wort Lager nie besonders gestört, es war normal und gehörte gewissermaßen zur erweiterten Familie. Es hatte für mich etwas zu tun mit Lagerfeuer, damit, dass Menschen eben irgendwo lagern. Lager gab es ohnehin sehr viel in meinem Leben. In der Schule zum Beispiel. Da gab es Konzentrationslager, von denen erzählten die Lehrer. Dann wurden Schwarzweißfotos gezeigt, in den Lehrbüchern. Fotos aus meinem Lager waren meistens bunt. Das mussten also andere Lager sein. Hin und wieder brachte ich Medaillen aus den Lagern mit, gravierte Plastescheiben mit einem Loch und einem bunten Kunststoffband. Sie waren wie Gold-, Silber- und Bronzemedaillen gefärbt, aber man sah ihnen an, dass es keine echten Medaillen waren. Mich störte das nicht. Vieles in meinem Leben war aus Plaste, zum Beispiel das Auto, mit dem mich Vater und Mutter abwechselnd zur Schule fuhren. Sie nannten es den Laubfrosch. Es war grün, stank und war sehr laut. Mein Bruder besaß auch einen Laubfrosch. Er hieß Peter der Erste und sprang an einem Sonntag im August vom Balkon im achten Stock. Erst einen Staat später erfuhr ich von anderen Lagern. Sie sollten sich dort befunden haben, wo einer Redensart nach mein Lager war. Diesem Lager, auch wenn ich es nicht so nannte, hatte ich mich immer zugehörig geführt. Und nun sollte es dort Lager gegeben haben, fernab von aller Zivilisation, Lager am Rand des Polarkreises. Kurz bevor ich die Universität beendet hatte, las ich Berichte und Bekenntnisse von Menschen, die schrieben, wie schrecklich es in diesen Lagern gewesen sei und dass sie selbst dort gewesen wären. Wie zum Beweis schauten sie aus ihren Fotos anklagend und leidend. Ich hatte oft Heimweh gehabt, wenn ich im Ferienlager war, weit weg von meinen Eltern, umgeben von fremden Kindern, fremden Erwachsenen und einem Zaun. Es war, wie mir nun allerorts gesagt wurde, ein kleines Abbild des großen Lagers, in dem ich meine Kindheit hatte. Der Tee kam aus großen Kesseln und schmeckte anders als anderer Tee. Nie wieder hatte ich Tee getrunken mit diesem Geschmack. In meiner Erinnerung waren die Kessel groß und dunkelgrün, im unteren Teil war ein Hahn eingebaut, und wenn man am Hebel drehte, ergoss sich der Tee in eine Plastetasse von unbeschreiblicher Farbe. In ihren Büchern schrieben die Menschen mit den anklagenden Gesichtern, dass es dort, in ihren Lagern nicht nur Zäune und manchmal auch Tee, sondern auch bewaffnete Posten und anderes, kaum Sagbares gegeben habe. Vieles klang glaubwürdig, da auch Menschen, denen ich sonst vertraute, ausweichende Antworten gaben. Auch ihre Augen wichen mir aus, wenn ich sie suchte, oder starrten durch mich hindurch, als ob sie tot wären, oder ich. Manche stießen auch Laute der Abwehr hervor, die tief aus dem Inneren ihrer Körper kamen.
Ich hatte eine Theorie entwickelt, die erklärte, warum die Leute für gewöhnlich auf dem rechten Ohr besser hören als auf dem linken. Sie lief darauf hinaus, dass die meisten Väter Rechtshänder sind.
Der Staat, den ich durchlief, hatte aufgrund seiner Größe, er war kleiner als seine bessere Hälfte und auch im internationalen Vergleich, das Bedürfnis, diese kleinste Größe durch Arbeit zu vergrößern, Arbeit am Menschen, der auch hier im Mittelpunkt stand. So kam es, dass aus der Mitte der Bevölkerung, zu der auch ich gehörte, mit wachsender Regelmäßigkeit immer größere sportliche Erfolge in immer internationaleren Wettkämpfen errungen wurden. Ein neues Geschlecht von Titanen entstand. Auch hier wurde die Weisheit mit Löffeln zugeführt. Denn wer ein Geschlecht hat und welches und wo und wann es anfängt und aufhört, bestimmten die Turnlehrer.
Polypen werden abgeklemmt und abgesaugt, Zellstoff mit wunderbarer Salbe tief ins Ohr gestopft, wo der kleine Finger nicht mehr hinkommt, man wartet auf den Ausfluss des Wundmaterials. Ich denke jetzt immer öfter daran, mir alle Hörnerven durchtrennen zu lassen, damit es endlich aufhört.
Ein Lager ist ein Ruheplatz. Hier kommt man zur Ruhe, zur letzten oder vorletzten, und wie man sich bettet, so liegt man. Schön gelegen. Woher wusste ich, wann ich in einem Lager war, in welchem, ob drinnen oder draußen. Kaum im einen, war ich schon im andern, kaum draußen, schon drinnen. Das nächste Lager ist immer das schwerste. Und was die andern sagten, dass das Lager auf der andern Seite sei, konnte genauso gut ein Schwindel sein. Schwindel war die Drehung der Erde, ihr umläufiges Taumeln. Mein Sonnensystem war ein Lager am Rand einer unbedeutenden Galaxie, ein Endlager der Evolution. Es war nicht alles schlecht, nur mir.
Ich hörte wieder dieses pfeifende Geräusch, diese kosmische, nur mir bestimmte Hundepfeife. Ich wollte mich erheben, wollte gehorchen, aber welchem Befehl.


| thomas wettengel © 2009 |

2010-02-14

HILFE

ich helfe gern. das bekommen nicht nur freunde aus der welt 1.0 zu spüren, sondern auch die aus der welt 2.0.

1.0.1.
als studierter magister und ausgefuchster müllerianer werde ich gern bemüht, wenn es darum geht, doch mal zu helfen, "weil du dich doch mit diesen müller-sachen so gut auskennst". ich mache ein gesicht, das intelligenz und understatement ausdrücken soll. ich weiss nicht, ob es gelingt. jedenfalls führt es zu kostenlosem kaffee und leckerem auflauf. und es führt mich in bereiche, die ich noch nicht kenne. dort gelingt mir zwar die eine oder die andere intelligente bemerkung, aber mich beschleicht das gefühl, doch nicht so viel beitragen zu können, wie mein gegenüber erwartet. ich mache mein intelligentes gesicht oder das, was ich dafür halte. ich versehe arbeiten mit unzähligen anmerkungen und - wegen der motivation - smileys. meine anmerkungen sind aber selbst mit legende kaum zu entziffern. eine schrift, schön und unleserlich. dabei habe ich mir solche mühe gegeben. weil ich doch so gerne helfe. wenigstens konnte ich noch die eine oder andere format-katastrophe verhindern. andere werden sich auftun, nach murphys gesetz und der dirk-baecker-konstante.

2.0.1.
um zu helfen, schlittere ich durch halb berlin. vor zwei tagen habe ich an der theaterkapelle herumgehackt. sie ist nicht umgefallen, thesen zum anschlagen hatte ich auch keine dabei. zwei freikarten habe ich gewonnen, und alle, die mich bei der arbeit beobachteten, machten anerkennende kommentare. manche wollten sogar helfen. aber das mache ich lieber selbst.

1.0.2.
ich helfe auch am telefon. heute rief mich eine freundin verzweifelt an, weil sie seit einer woche an einer bewerbung laboriert wie an einem grippalen infekt. ich habe mir das bewerbungsschreiben vorlesen lassen und drei formulierungen für einen absatz gemailt, die allesamt nichts brachten ausser eine verifizierung der dirk-baecker-konstante, die besagt, dass jedes problem die lösung eines vorhergehenden problems ist. ich tue, was ich kann. am ende war die freundin immer noch verzeifelt, aber irgendwie anders. ich helfe gern.

| thomas wettengel (c) 2010-02-14 |

2010-02-07

ZWISCHEN DEN ZEILEN

kannst du noch in den spiegel sehn

kannst du den hut vor dem mut andrer leute ziehn

kannst du deinen papiertiger noch verantworten in diesem käfig

kannst du nein sagen ohne zu lügen

kannst du deinen posten noch verlassen


kannst du deine faust in den spiegel treiben

kannst du noch lachen über die menschen

kannst du in gedanken auf und ab gehen

kannst du dich noch zu einer anständigen lüge aufraffen

kannst du deinen posten behaupten


im angesicht der niederlage

was befällt dich furcht oder gelächter


hast du noch drei wünsche frei

hast du noch eine frage oder war es das




| thomas wettengel © 2004 |