SCHLOTTERDEICH [FRAGMENT]
er war hintergangen worden. sie hatten ihn hereingelegt. aber wer. fest stand, dass er sich seit geraumer zeit auf unbekanntem terrain fortbewegte.
ich bin der einzige, der noch am leben ist, dachte er. alle anderen teilnehmer sind längst vom schlotterdeich gefallen, tot, verstorben. oder war er es, der im begriff war, sich zu versterben. vielleicht waren ja die anderen richtig gestorben, und er wusste nur nicht, wie es anfangen, oder vielmehr beenden, sich. sein ist anwesen, sterben ist verwesen, mehr gab sein gehirn nicht her. immerhin, ein trost, die philosophie hatte ihn noch nicht verlassen.
der tod ist ein irrtum, befand er. möglicherweise war das der tiefere sinn des wortes verstorben. oder war sein tod, wie jeder andere, nur das ergebnis eines fehlerhaften programms, oder fand er gar nicht statt. was wäre schlimmer. er wusste keine antwort, vorläufig. er blieb sie schuldig, wem, wusste er auch nicht. er beschritt den schmalen schlotterdeich weiter in richtung der nächsten biegung, den sumpf zur linken und den wald zur rechten.
und wenn er nun die ganze zeit im kreis liefe. hier lief ohnehin einiges schief, warum nicht auch das. in filmen mag das ganz lustig sein, aber endlosschleifen in echtzeit waren etwas anderes. schon der gedanke daran löste ein frösteln aus. der gedanke, sich in einer endlosschleife zu bewegen, war eines der produkte von leuten, die an den eismaschinen drehen. wenn der eismann zwei mal klingelt, aber das blieb fragment.
die sonne stand hoch am himmel, oder niedrig, je nachdem. ein alter hut, leider nur ein gedachter. musst er eben leiden. so ein vietnamesischer strohhut wäre jetzt gut. er war schlecht ausgerüstet worden. das war sicher. kein wasser, kein sonnenschutz, keine waffen, keine orientierungshilfen, kein pfadfinderwissen. im elend ist man überall im ausland. und kein thermometer, aber das schien ihm gut zu sein. die gefühlte temperatur war schon höllenhaft, die gewusste hätte ihm den rest gegeben.
defizite machten sich bemerkbar. er wurde immer weniger, die landschaft immer mehr. ich habe schon verstanden, brüllte es in seinen eingeweiden, du hast gewonnen. die gegenseite schien das nicht zu interessieren, sie zeigte sich nicht einmal. vielleicht war er die gegenseite, eine gegenseite ohne gegner, die leerläuft. das wäre zumindest eine plausible erklärung für mein sinnloses vorwärtstappen. aber das gebiet musste regenreich sein, denn der damm war feucht, und er machte seinem namen ehre. was heisst hier ehre. da steht jemand am ende, jemand, der wusste, wo das ende war, und schlug wellen, wie mit einem teppich.
der deich, so nannte er ihn, hatte ähnlichkeit mit einem bahndamm, und hier und da ragte etwas aus dem boden, was mit gutem willen als zivilisationsrest zu identifizieren war. mal eine bohle, mal reste eines waggons, fahrgestelle. die reste befanden sich auf der waldseite, der sumpf hatte alles verschlungen, was heruntergefallen und vom rechten weg abgekommen war. die hände in die hüften gestützt, blickte er zur sumpfseite, die bis zum horizont gleichförmig blieb. sumpf, so weit das auge reichte. wenn ich mich hinsetze, werde ich todsicher abrutschen und versinken, und hier draussen hört und sieht mich niemand. also, dachte er, ist es sicherer, auf beiden beinen stehen zu bleiben. mit beiden beinen im leben stehen. redensarten griffen um sich, auf sein gehirn zu und hinein ins nicht mehr so pralle menschenleben, ein zeichen des zunehmenden verfalls. vielleicht war der schlotterdeich selbst, nein. jetzt ein zaghaftes oder deutliches hallo zu rufen, schien ihm nicht geraten. hier deutete nichts auf gleichzeitiges menschliches leben. er war ganz offensichtlich zu spät dran, und würde vom leben bestraft werden. das bewusstsein ist eben immer hinterher, ja, wenn man nicht immer hinterher wäre, gäbe es gar keine ziele mehr.
dehnungsübungen, überprüfen der gelenkfunktionen, alles im stehen. das war doch ein schlechter witz auf den langen marsch, ein eintöniges vorwärtsbrüten, im gleichschritt mit der hoffnung, die zuletzt stirbt. warum eigentlich. da hatte ihn jemand falsch programmiert, und doch wieder richtig, denn verzweiflung und hoffnung, angst und hoffnung, hunger und hoffnung, geilheit und hoffnung, alles kreiste um die hoffnung, wie er um diesen wald, oder um den sumpf, die er beide unmöglich umrunden konnte. wenigstens nicht zugleich. a und nicht a feierten verbrüderung, als logischer hockstrecksprung in die paradoxie. was sagt die zeit, mir sagt sie nichts, die uhr haben sie mir auch abgenommen, es war zum verzweifeln. die gelenke funktionierten tadellos, bis auf ein bekanntes leichtes knacken im linken knie.
irgendwann müsste es auch dunkel werden. dieser todesmarsch konnte ja nicht ewig so weitergehen. das wort todesmarsch, einmal gedacht, frass sich nun durch sein gehirn, unaufhaltsam.
| thomas wettengel © 2010-03-10 |
2010-03-14
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen