2011-03-04

LESEN UND LESEN LASSEN (ANSTELLE EINES FAZITS)

mit malapartes HAUT bin ich also durch.

der text ist über weite strecken ärgerlich, klerikal-faschistische scheisse. warum habe ich mir das angetan?

weil es auch gute stellen gibt. die beschreibung des karrens der städtischen müllabfuhr von neapel beispielsweise, der zu festgesetzter stunde, gezogen von zwei kleppern, durch die gassen rattert, um die toten einzusammeln.

"ein schwarm von männern und frauen tauchte aus einer der höhlen hervor, eine rohgezimmerte, lange kiste auf die schultern gestemmt - denn holz war sehr knapp, und die särge bestanden daher aus alten, ungehobelten brettern, aus schranktüren und wurmstichigen fensterläden -; sie liefen, laut weinend und schreiend, wie wenn eine grosse gefahr herannahe, sie drängten sich mit wütendem eifer um den sarg, als befürchteten sie, dass irgendwer käme, ihnen den leichnam streitig zu machen, ihn ihren armen, ihrer liebe zu entreissen."

die anekdote aus der historie des bestattungswesens findet sich in der deutschen erstausgabe auf den seiten 85 bis 88.

die ausführungen zu päderastie, homosexualität und heldentum, die sich durch das ganze buch ziehen, sind durchaus lesenswert.

"'eine masse enttäuschter, verdorbener, verzweifelter junger menschen, die päderasten spielen werden, wie wenn sie tennis spielen.'" (157)

mit malaparte kann der leser ausflüge in die befindlichkeiten, zusammenkünfte und gefühlswelten der oberen gesellschaftsschichten italiens und europas während des zweiten weltkrieges machen. dieses angebot sollte, selbst bei einer leicht nachvollziehbaren abneigung gegen malapartes politische ansichten, nicht leichtfertig ausgeschlagen werden. wie lautete der titel des romans?

"'die haut', erwiderte ich mit leiser stimme, 'unsere haut, diese verfluchte haut. sie ahnen nicht einmal, wessen ein mensch fähig ist, welcher heldentaten und welcher gemeinheiten, um seine haut zu retten. dies, diese widerliche haut, sehen sie?' und bei diesen worten fasste ich mit zwei fingern die haut auf meinem handrücken und zog sie hin und her. 'einst erduldete man den hunger, die folter, die schrecklichsten qualen und entbehrungen, man tötete und man starb, man litt und man machte leiden, um die seele zu retten, die eigene seele und die der anderen. man war jeder grösse und jeder gemeinheit fähig, um die seele zu retten. nicht nur die eigene seele, sondern auch die der anderen. heute leidet man und macht leiden, tötet man und stirbt, vollbringt man wunderbare dinge und entsetzliche dinge, nicht etwa um die eigene seele, sondern um die eigene haut zu retten. man wähnt, für die eigene seele zu kämpfen und zu leiden, aber in wahrheit kämpft und leidet man für die eigene haut, nur für die eigene haut. alles übrige zählt nicht. man wird zum helden für eine sehr armselige sache heutzutage! für eine abscheuliche sache. die menschliche haut ist eine abscheuliche sache. sehen sie. sie ist eine widerwärtige sache. und man muss überlegen, dass die welt voller helden ist, die bereit sind, ihr leben für eine solche sache zu opfern!' (175)

malaparte sagt zwar nicht, woher er weiss, dass man früher nicht für die eigene haut heldentaten vollbracht hat, das muss er auch nicht, weil er keine doktorarbeit schreibt, aber es wäre trotzdem schön zu wissen, warum die haut für malaparte eine so widerwärtige sache ist. vielleicht deshalb, weil an ihr der körper offensichtlich wird?

"ich schwieg, da ich nicht wusste, was antworten. man weiss nie, was man leuten, die für die freiheit sterben, antworten soll." (189)

das ist ein bemerkenswerter satz. den kann man ruhig so stehen lassen, ganz unironisch. bemerkenswert ist auch die szene, in der malaparte sich weigert und seine umgebung davon abhält, einem schwerstverwundeten zu helfen, ihn zu transportieren, und ihm so einen leichteren tod sterben lässt. man weiss nicht, inwiefern die realität des textes einer realität des erlebten entspricht. es ist denkbar, dass sie ihr ganz enstspricht, und das genügt, um ihr eine moralische grösse zu geben. die grösse liegt in der behauptung der hilfe durch nicht-hilfe. die szene ist eine der besten des ganzen buchs, sie befindet sich um die seite 241 herum.

"'really?', rief mrs. flat, vor freude rot werdend und langsam ihren blick mir zuwendend. zwischen ihren zu bewunderndem lächeln geöffneten lippen sah ich das schimmernde weiss ihrer zähne, das helle blitzen dieser wunderbaren amerikanischen zähne, über welche die jahre nichts vermögen, und die geradezu echt wirken, so weiss, so ebenmässig und unberührt sind sie [ausser vom essen und einigen anderen dingen]. dieses lächeln blendete mich, es liess mich mit einem angstschauer die lider schliessen. es war das schreckliche blitzen der zähne, das in amerika das erste glückliche anzeichen des alters ist, der letzte blitz, den jeder amerikaner, während er lächelnd ins grab steigt, als abschiedsgruss der welt der lebenden zusendet." (288)

dieses lächeln kehrt als das lächeln des soldaten aus england im späten gedicht BIRTH OF A SOLDIER von heiner müller zurück. "'ICH BIN EIN NEGER.'" (318) der ausbruch des vesuv ist, als ereignis des romans, anlass, die masse mensch in wenig schmeichelhafter form zu schildern, was man malaparte nicht übel nehmen würde, wenn sie nicht nur ornament und erzähleranlass wäre.

"die scharen schlammbedeckter gespenster, die allerorten der erde entquollen, die menschenmasse, die wie ein hochgehender strom in die untere stadt hinabstürzte, das raufen, heulen, jammern, fluchen, das singen, die angst, die regellose flucht [schwarm-schätzing würde das wohl nicht mehr schreiben], die wilden kämpfe um ein tabernakel, um eine fontäne, um ein kreuz, um eine backstube verbreiteten quer durch die ganze stadt einen aufstandähnlichen tumult, der auf die meeresküste mündete, auf die via partenope, auf die via caracciolo, auf die riviera die chiaia, auf die strassen und plätze, die zwischen den granili und der mergellina dem meere zugewandt sind: als ob das volk in seiner verzweiflung nur vom meere sich rettung erwartete, als ob die menschen hofften, dass die wogen die flammen löschen möchten, welche die erde verzehrten, oder dass wunderwirkendes erbarmen der jungfrau und des heiligen gennaro ihnen die macht gäbe, über die wasser zu wandeln und so zu entfliehen." (360)

doch über den wassern wandelt nur der erzähler, der übrig bleibt, um zu erzählen.

"solchen worten folgte aus der menge ein lautes aufheulen, das dumpfe tönen der gegen brust und bauch trommelnden fäuste und das gellende jammern der gläubigen, die sich die haut zerbissen und zerkratzten." (461)

die masse kommt wirklich nicht gut weg bei malaparte. ihr geht es eben nur um die eigene haut. da verliert sie im urteil des erzählers, der auch malaparte heisst, schnell. das auftreten der masse in DIE HAUT erinnert erschreckend an die unbeholfenen dramatischen versuche der deutschen expressionisten. in einem roman lassen sich massen besser unterbringen. zu überlesen ist das vernichtende urteil malapartes über die masse freilich nicht.

dass faschismus keine meinung, sondern ein verbrechen ist, ist klar. dass auch unliebsame, wenngleich tote autoren gute texte schreiben können, muss man sich immer wieder klar machen.

| thomas wettengel © 2011-03-04 |

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