2009-12-15

DOMINA ANTE PORTAS

leute, leute, die muetter, ob alleinerziehend oder verhausfraut, sind auch im blog in der uebermacht. gut, dass ich nicht zum virtuellen kaffeetrinken gezwungen werden kann. haeckeldeckchen und stempelvirus grassieren. peinliche farben und ueberbilderte aufmachungen lassen keinen zweifel aufkommen, wer hier das sagen/tratschen hat. die deutsche micheline.

blog! dich! frei!

SUSANNE SCHAEDLICH: IMMER WIEDER DEZEMBER

AKTEN, AKTEN, AKTEN
Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich



Dieses Buch beschreibt einen Verrat.

Ob dieser Verrat besser beschrieben ist, wenn er „infam“ genannt wird, wie es der Rezensent in der Tageszeitung getan hat, ist zweifelhaft. Zweifelhaft ist auch, ob sich Verrat „fortpflanzt“. Wenn sich etwas fortpflanzt, dann Pflanzen. Papier nicht. Papier ist geduldig. Menschen auch nicht, sie menschen sich fort. Weil Menschen weniger geduldig sind als Pflanzen und Papier zusammen, haben sie das Verlangen nach Akteneinsicht. Zu den Akten, zu die Akten, auf die Akten.

Und siehe da, es offenbarte sich ein finsteres Geheimnis. Der väterliche Freund war ein staatlicher Onkel. Und dieser ging hin als jener und erbot sich den Häschern, behilflich zu sein. Und siehe, er ging ein und aus bei Freund und Nichte und wurde nicht erkannt. Denn er war gewappnet mit dem Schild seines Namens. Und siehe, es war ein großer Name. Er trug ihn hin zu Hinz und Kunz und sprach, öffnet. Und ihm wurde geöffnet, und er tat gut mit den Hinzen und Kunzen. Doch siehe, er war ein Doppelkopf, und er trug schnell wie der Wind im Herbst die frohe Kunde in jenes Haus, in dem die Häscher saßen. Und die Häscher waren beglückt und freuten sich ihres Daseins. Und die Arglosen bewirteten ihn und scherzten, denn er war geachtet unter ihnen. Denn sie wussten nicht, wie ihnen geschah.

Bis 1992. Da erkannte der Schriftsteller-Bruder den Historiker-Bruder als einen Büttel in Menschengestalt, und der Büttel war sehr geknickt, denn er hatte immer ein leuchtender Held sein wollen. Schluss- beziehungsweise schussendlich beförderte sich der Historiker-Bruder ins Nichts. Das tat er, nachdem er vieles vernichtet hatte. Der Täter war sein letztes Opfer, und das mag seine überlebenden Opfer freuen oder nicht oder Gefühle unbeschreibbarer Art auslösen. Das berechtigt aber einen Karl Corino in der Frankfurter Rundschau nicht zu folgendem Satz: Sein Schuss in den Mund traf das Organ, mit dem er seine Schandtaten begangen hatte. Das ist klammheimliche Freude.

So wie es nicht nur eine Zukunft, sondern dank des Konjunktivs mehrere Zukünfte gibt, so gibt es auch mehrere Vergangenheiten. Der Satz: Die Geschichte muss umgeschrieben werden, wird konkret, wenn er mich selbst betrifft. Das ist Susanne Schädlich passiert.

Eine Episode des sehr trocken, manchmal unbeholfen erzählten Erinnerungsbuchs fand in keiner der Rezensionen, die ich gelesen habe, einen Nachhall. Es handelt sich um die Phase, in der die junge Susanne Schädlich sich entschließt, in ein wirkliches Ausland zu reisen, nämlich in die USA. Um ihre große Tour zu finanzieren, geht sie arbeiten.

Es bedurfte einiger Vorbereitung, das war klar. Neben der Schneiderschule fing ich an zu jobben. Bei der Post. Ich wurde vereidigt, zusammen mit den anderen Hilfskräften für die Nacht, und wir luden Pakete in Regale, schoben Kästen mit Briefen herum, ordneten vor für die Frauen, die auf Drehstühlen hinter kleinen Regalen saßen und die Briefe nach Straßen sortierten. Eine illustre nächtliche Runde, vor allem in den Pausen. Hartgesottene und doch weichherzige Arbeiterinnen, mit einem drastischen Humor, wir die junge Brut, die es zu beschützen galt, vor allem vor dem stets betrunkenen ‚Vorsteher’, der aufpasste, dass alles seine Ordnung hatte und jede ihrer Arbeit nachging. Wir ließen uns noch einschüchtern. Die Frauen nicht. Am schönsten waren die Momente, wenn die Postkarten vorgelesen wurden. So viel Zeit musste sein, Nacht für Nacht, bevor sie in Straßennamenfächern verschwanden. (198)


Die Lust nicht nur der zukünftigen Schriftstellerin, sondern auch die der einfacher komplizierten Postarbeiterinnen an Texten, die sie nichts angehen, wird im Gestus der Selbstverständlichkeit vorgetragen. Als wäre es das normalste der Welt, dass Postkarten von Postbeamten gelesen werden. Es ist ein eigenartiges, kollektives, weiblichen, prekäres Vergnügen. Die Autorin befragt es im Verlauf des Buches nicht. Das verwundert und erschreckt. Dass großnamige Schriftstellerinnen oder weltbeste Dramatiker ihre Mitmenschen gern als Material ge- beziehungsweise missbrauchen, je nach dem Standpunkt, ist bekannt. Dieser Gefährdung sind Schreibtischtäter beziehungsweise Schreibtischtröter, je nach Aktenlage, permanent ausgesetzt. Ohne Verrat kommen sie in ihrem Geschäft nicht aus. Polizisten, Journalisten, das reimt sich. Vielleicht war es ein Versehen.

Kein Versehen war die Zuträgerei des Onkels, des Historikers in historischer Dunkelmänner-Mission. Er produzierte nicht nur Aktenmeter für die Stasi, sondern eine nachträgliche Vergangenheit für seine Mit- und Nachgeborenen. Diese befinden sich in der durchaus gewöhnlichen, perversen Situation, dass Teile ihrer Erinnerung bei der preußischen Polizei ein- und ausgelagert wurden und sind. Tagebücher brauchten in der DDR wirklich niemand zu schreiben. Diese Arbeitsteilung war garantiert. Das Eigene der Erinnerung ist, dass sie nicht eins und nicht nur eigen ist. Der Trend geht ein-eindeutig zur multiplen Erinnerung.

Es ist ein Befreiungsbuch. Und ein Befreiungsschlag sieht nicht immer schön aus. Das ist auch nicht sein Zweck. Hauptsache, er trifft. Notfalls auch einen Toten, und das ist gut so. Man soll über Tote nur Gutes sagen. Wer sagt das?

Und wer seine Schuld nennt und nennt sein Verdienst nicht
Der soll mit den Hunden wohnen als ein Hund
Und wer sein Verdienst nennt und nennt seine Schuld nicht
Der soll auch mit den Hunden wohnen. (Heiner Müller, Der Horatier)

Susanne Schädlichs Buch ist Ideologiezertrümmerung. Man soll über Tote Gutes Und Schlechtes sagen. Wenn jemand mehr Schlechtes über einen Toten zu sagen hat, hat das auch sein Gutes. Mindestens für den, der es sagt.

Es ist ein bewegendes, nicht zu anspruchsvolles Weihnachtsgeschenk. Es ist ein Buch für die ganze (ostdeutsche) Familie. Es ist schließlich Weihnachten: Und: Immer wieder Dezember.


[Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich. München: Droemer Verlag 2009, 240 Seiten, 17 Euro]

2009-12-07

PASCAL MERCIER: LEA

DER FLIEHENDE HOLLÄNDER. Pascal Mercier: Lea


Bieri versucht sich 2007 an einem Hochglanzroman, der nun auch als Taschenbuch erhältlich ist. Eine Novelle ist es, entgegen der Behauptung des Autors, nicht. Dagegen spricht der Umfang, dagegen spricht auch die behäbige und selbstgefällige Sprache des Textes. Zwei Männer mittleren Alters, offensichtlich ganzseitigen Anzeigen für Geländewagen und Armbanduhren entsprungen, zermürben sich wechselseitig in kultivierten Erinnerungen.

Lea ist ein Roman für gebildete Leute. Das sieht man schon an den vielen, eingestreuten englischen und französischen Sequenzen. Lea ist ein Roman von einem gebildeten Menschen, geschrieben für gebildete Menschen, der von gebildeten Menschen handelt. Es ist weniger ein Bildungsroman, sondern vielmehr ein Gebildetenroman. Wer mehrsprachig aufgewachsen ist oder eine oder mehrere Fremdsprachen spricht, kann sich seine Bildung hier bestätigen lassen. Ein Fremdwort habe ich nicht verstanden. Es heißt „Chintz“. Die Wikpedia (http://wikipedia.org/Chintz) sagt mir:

„Der Ausdruck Chintz (engl. aus Hindi) bezeichnet ursprünglich ein wachsüberzogenes, dünnes, glänzendes Baumwollgewebe in einer Leinwandbildung. Es wird heute vor allem als Dekostoff verwendet. Heute werden Kunstharze und Friktionskalandar genutzt, um einen solchen Hochglanzeffekt bei besserer Strapazierfähigkeit des Gewebes zu erreichen.“

Lea ist noch nicht als Belegstelle für „Chintz“ angeführt. Aber das kommt wahrscheinlich noch. Chintz kommt im Roman zunächst in Form von Sofakissen vor, über die die talentierte, vielleicht verzogene und später wahnsinnig werdende Lea „mit der Hand liebkosend“ fährt. „Und Chintz, viel Chintz, eine ganze Wand war mit dem glatten, verführerischen Stoff bespannt. Am liebsten würde sie in Chintz baden, sagte Lea nach der ersten Woche Unterricht.“ Pascal Mercier, das ist in bürgerlicher Ausführung Peter Bieri, ein Schweizer Schriftsteller, will den Leser mit der Nase in den Chintz stupsen. Der Leser ist ihm ein junger Dingo, der zum gebildeten Begleiter des Schriftstellers gebildet werden muss.

Dieses Prinzip der Leserführung hält der Autor konsequent durch. Der Leser wird mit der Nase auf alles gestoßen, was er mögen und nicht mögen soll. Wer es mag.

Der Taschenbuchausgabe von Lea hat der Autor ein Nachwort angehängt. Dieses Nachwort ist für ausgesprochen dumme Dingos verfasst. Hier erklärt der Autor in einer Liebenswürdigkeit, die er besser vermieden hätte, sein Buch. Weil ich Ihnen nicht das ganze Nachwort nacherzählen will, führe ich Ihnen nur die ersten Sätze vor. Als Deutscher bin ich von Haus aus zum Hundeführer begabt.

„Dieses Buch handelt von einer Erfahrung, die wir uns ungern eingestehen: Auch diejenigen Menschen, mit denen wir durch große Intimität verbunden sind, können uns fremd werden.“ Ja, warum auch nicht.

„Dieses Thema war in meinen Romanen stets gegenwärtig, doch eher auf indirekte Weise.“ Er preist seinen neuen Roman als ein furchtloses Enthüllungsbuch an. Ein Interview wäre viel lustiger gewesen.

„Wie ließ sich das Thema am besten instrumentieren?“ Damit auch der letzte Leser merkt, dass Musikinstrumente vorkommen. Dieser Autor spricht außerdem gern über seine Fähigkeiten. Und er spricht durch die Blume.

„Es lag nahe, der Erzählung die Form einer Tragödie zu geben: Jemand handelt aus bester Absicht und führt gerade dadurch eine Katastrophe herbei.“ Es soll Leute geben, die meinen, dass es egal ist, wie jemand handelt, weil: am Ende stirbt er doch. Manche halten das für tragisch genug. Wie kann ein Roman eine Erzählung, ein Instrumentiertes und dann noch eine Tragödie sein? Ein bisschen spannend muss es ja bleiben.

„Aus welcher Perspektive sollte die Geschichte erzählt werden?“ Wie gesagt, ein Interview wäre lustiger gewesen.

„Die Lösung war, eine neue Figur einzuführen, die dem Vater zuhörte.“ Der Vater erzählt einem Fremden die Geschichte seiner Tochter, und der Fremde kommentiert das dann. So wird die Geschichte der Tochter sozusagen einem Mittelsmann berichtet, der sie dem Leser vermittelt. Tja. Das Leiden der Anderen.

„Die beiden Männer sind Naturwissenschaftler, die von sich sagen, sie hätten die Sprache der Gefühle nicht gelernt.“ Sie kennen auch keine Schimpfwörter. Nur Lea kennt welche.

Das sind schöne Gegenden, von denen Herr Mercier erzählt. Das Problem ist, dass er an jeden Absatz ein Vorwort und ein Nachwort pappt. So weiß der Leser nach einigen Seiten nicht mehr, was Vorwort, was Nachwort, und was Roman ist.

Kapitel sieben ist ein schlimmes Beispiel. Da berichtet der Vater, der letztlich auch stirbt und zwar durch sich selbst, dem Fremden von einer verlorenen Bewegung, die er an seiner Tochter bemerkt. Heiner Müller, als er noch lebte, sagte über die Texte Kafkas, dass dieser Gesten ohne Bezugssystem beschreibe. Der Autor von Lea belästigt den Leser mit Bezugssystemen. Auch traut er einem Naturwissenschaftler, selbst wenn er Vater ist, keinen kalten, fremden, wissenschaftlichen, keinen außerirdisch interessierten Blick auf diese Bruchstücke, die einst seine Tochter waren, zu. Die Figur wirkt nicht durchdacht.

Wenn Bernhard Walcher (literaturkritik 7/2007) den Roman des Schweizer Professors in eine Traditionslinie mit Grimmelshausen und seinem „Simplicissimus“ stellt, sagt das mehr über die Sehnsüchte des Rezensenten als über Bieris Buch. Grimmelshausens Figur ist ja keine Aussteiger-, sondern eine Mitmacher-Figur, die mehr Ähnlichkeiten mit dem Hundehändler Schweijk als mit dem Biokybernetikers van Vliet aufweist.

Lea ist ein Künstlerroman, geschrieben von einem Wiedergänger Gottfried Kellers, ein wenig zu höflich und zu langatmig. Wer allerdings wissen will, warum Musiker ihre Instrumente zerschmettern, kann hier einiges über die Gründe und Abgründe dieser Geste erfahren.

[Pascal Mercier: Lea. Novelle, 256 Seiten, Taschenbuchausgabe von 2009 für 9 Euro]