AKTEN, AKTEN, AKTEN
Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich
Dieses Buch beschreibt einen Verrat.
Ob dieser Verrat besser beschrieben ist, wenn er „infam“ genannt wird, wie es der Rezensent in der Tageszeitung getan hat, ist zweifelhaft. Zweifelhaft ist auch, ob sich Verrat „fortpflanzt“. Wenn sich etwas fortpflanzt, dann Pflanzen. Papier nicht. Papier ist geduldig. Menschen auch nicht, sie menschen sich fort. Weil Menschen weniger geduldig sind als Pflanzen und Papier zusammen, haben sie das Verlangen nach Akteneinsicht. Zu den Akten, zu die Akten, auf die Akten.
Und siehe da, es offenbarte sich ein finsteres Geheimnis. Der väterliche Freund war ein staatlicher Onkel. Und dieser ging hin als jener und erbot sich den Häschern, behilflich zu sein. Und siehe, er ging ein und aus bei Freund und Nichte und wurde nicht erkannt. Denn er war gewappnet mit dem Schild seines Namens. Und siehe, es war ein großer Name. Er trug ihn hin zu Hinz und Kunz und sprach, öffnet. Und ihm wurde geöffnet, und er tat gut mit den Hinzen und Kunzen. Doch siehe, er war ein Doppelkopf, und er trug schnell wie der Wind im Herbst die frohe Kunde in jenes Haus, in dem die Häscher saßen. Und die Häscher waren beglückt und freuten sich ihres Daseins. Und die Arglosen bewirteten ihn und scherzten, denn er war geachtet unter ihnen. Denn sie wussten nicht, wie ihnen geschah.
Bis 1992. Da erkannte der Schriftsteller-Bruder den Historiker-Bruder als einen Büttel in Menschengestalt, und der Büttel war sehr geknickt, denn er hatte immer ein leuchtender Held sein wollen. Schluss- beziehungsweise schussendlich beförderte sich der Historiker-Bruder ins Nichts. Das tat er, nachdem er vieles vernichtet hatte. Der Täter war sein letztes Opfer, und das mag seine überlebenden Opfer freuen oder nicht oder Gefühle unbeschreibbarer Art auslösen. Das berechtigt aber einen Karl Corino in der Frankfurter Rundschau nicht zu folgendem Satz: Sein Schuss in den Mund traf das Organ, mit dem er seine Schandtaten begangen hatte. Das ist klammheimliche Freude.
So wie es nicht nur eine Zukunft, sondern dank des Konjunktivs mehrere Zukünfte gibt, so gibt es auch mehrere Vergangenheiten. Der Satz: Die Geschichte muss umgeschrieben werden, wird konkret, wenn er mich selbst betrifft. Das ist Susanne Schädlich passiert.
Eine Episode des sehr trocken, manchmal unbeholfen erzählten Erinnerungsbuchs fand in keiner der Rezensionen, die ich gelesen habe, einen Nachhall. Es handelt sich um die Phase, in der die junge Susanne Schädlich sich entschließt, in ein wirkliches Ausland zu reisen, nämlich in die USA. Um ihre große Tour zu finanzieren, geht sie arbeiten.
Es bedurfte einiger Vorbereitung, das war klar. Neben der Schneiderschule fing ich an zu jobben. Bei der Post. Ich wurde vereidigt, zusammen mit den anderen Hilfskräften für die Nacht, und wir luden Pakete in Regale, schoben Kästen mit Briefen herum, ordneten vor für die Frauen, die auf Drehstühlen hinter kleinen Regalen saßen und die Briefe nach Straßen sortierten. Eine illustre nächtliche Runde, vor allem in den Pausen. Hartgesottene und doch weichherzige Arbeiterinnen, mit einem drastischen Humor, wir die junge Brut, die es zu beschützen galt, vor allem vor dem stets betrunkenen ‚Vorsteher’, der aufpasste, dass alles seine Ordnung hatte und jede ihrer Arbeit nachging. Wir ließen uns noch einschüchtern. Die Frauen nicht. Am schönsten waren die Momente, wenn die Postkarten vorgelesen wurden. So viel Zeit musste sein, Nacht für Nacht, bevor sie in Straßennamenfächern verschwanden. (198)
Die Lust nicht nur der zukünftigen Schriftstellerin, sondern auch die der einfacher komplizierten Postarbeiterinnen an Texten, die sie nichts angehen, wird im Gestus der Selbstverständlichkeit vorgetragen. Als wäre es das normalste der Welt, dass Postkarten von Postbeamten gelesen werden. Es ist ein eigenartiges, kollektives, weiblichen, prekäres Vergnügen. Die Autorin befragt es im Verlauf des Buches nicht. Das verwundert und erschreckt. Dass großnamige Schriftstellerinnen oder weltbeste Dramatiker ihre Mitmenschen gern als Material ge- beziehungsweise missbrauchen, je nach dem Standpunkt, ist bekannt. Dieser Gefährdung sind Schreibtischtäter beziehungsweise Schreibtischtröter, je nach Aktenlage, permanent ausgesetzt. Ohne Verrat kommen sie in ihrem Geschäft nicht aus. Polizisten, Journalisten, das reimt sich. Vielleicht war es ein Versehen.
Kein Versehen war die Zuträgerei des Onkels, des Historikers in historischer Dunkelmänner-Mission. Er produzierte nicht nur Aktenmeter für die Stasi, sondern eine nachträgliche Vergangenheit für seine Mit- und Nachgeborenen. Diese befinden sich in der durchaus gewöhnlichen, perversen Situation, dass Teile ihrer Erinnerung bei der preußischen Polizei ein- und ausgelagert wurden und sind. Tagebücher brauchten in der DDR wirklich niemand zu schreiben. Diese Arbeitsteilung war garantiert. Das Eigene der Erinnerung ist, dass sie nicht eins und nicht nur eigen ist. Der Trend geht ein-eindeutig zur multiplen Erinnerung.
Es ist ein Befreiungsbuch. Und ein Befreiungsschlag sieht nicht immer schön aus. Das ist auch nicht sein Zweck. Hauptsache, er trifft. Notfalls auch einen Toten, und das ist gut so. Man soll über Tote nur Gutes sagen. Wer sagt das?
Und wer seine Schuld nennt und nennt sein Verdienst nicht
Der soll mit den Hunden wohnen als ein Hund
Und wer sein Verdienst nennt und nennt seine Schuld nicht
Der soll auch mit den Hunden wohnen. (Heiner Müller, Der Horatier)
Susanne Schädlichs Buch ist Ideologiezertrümmerung. Man soll über Tote Gutes Und Schlechtes sagen. Wenn jemand mehr Schlechtes über einen Toten zu sagen hat, hat das auch sein Gutes. Mindestens für den, der es sagt.
Es ist ein bewegendes, nicht zu anspruchsvolles Weihnachtsgeschenk. Es ist ein Buch für die ganze (ostdeutsche) Familie. Es ist schließlich Weihnachten: Und: Immer wieder Dezember.
[Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich. München: Droemer Verlag 2009, 240 Seiten, 17 Euro]
2009-12-15
SUSANNE SCHAEDLICH: IMMER WIEDER DEZEMBER
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