2009-12-07

PASCAL MERCIER: LEA

DER FLIEHENDE HOLLÄNDER. Pascal Mercier: Lea


Bieri versucht sich 2007 an einem Hochglanzroman, der nun auch als Taschenbuch erhältlich ist. Eine Novelle ist es, entgegen der Behauptung des Autors, nicht. Dagegen spricht der Umfang, dagegen spricht auch die behäbige und selbstgefällige Sprache des Textes. Zwei Männer mittleren Alters, offensichtlich ganzseitigen Anzeigen für Geländewagen und Armbanduhren entsprungen, zermürben sich wechselseitig in kultivierten Erinnerungen.

Lea ist ein Roman für gebildete Leute. Das sieht man schon an den vielen, eingestreuten englischen und französischen Sequenzen. Lea ist ein Roman von einem gebildeten Menschen, geschrieben für gebildete Menschen, der von gebildeten Menschen handelt. Es ist weniger ein Bildungsroman, sondern vielmehr ein Gebildetenroman. Wer mehrsprachig aufgewachsen ist oder eine oder mehrere Fremdsprachen spricht, kann sich seine Bildung hier bestätigen lassen. Ein Fremdwort habe ich nicht verstanden. Es heißt „Chintz“. Die Wikpedia (http://wikipedia.org/Chintz) sagt mir:

„Der Ausdruck Chintz (engl. aus Hindi) bezeichnet ursprünglich ein wachsüberzogenes, dünnes, glänzendes Baumwollgewebe in einer Leinwandbildung. Es wird heute vor allem als Dekostoff verwendet. Heute werden Kunstharze und Friktionskalandar genutzt, um einen solchen Hochglanzeffekt bei besserer Strapazierfähigkeit des Gewebes zu erreichen.“

Lea ist noch nicht als Belegstelle für „Chintz“ angeführt. Aber das kommt wahrscheinlich noch. Chintz kommt im Roman zunächst in Form von Sofakissen vor, über die die talentierte, vielleicht verzogene und später wahnsinnig werdende Lea „mit der Hand liebkosend“ fährt. „Und Chintz, viel Chintz, eine ganze Wand war mit dem glatten, verführerischen Stoff bespannt. Am liebsten würde sie in Chintz baden, sagte Lea nach der ersten Woche Unterricht.“ Pascal Mercier, das ist in bürgerlicher Ausführung Peter Bieri, ein Schweizer Schriftsteller, will den Leser mit der Nase in den Chintz stupsen. Der Leser ist ihm ein junger Dingo, der zum gebildeten Begleiter des Schriftstellers gebildet werden muss.

Dieses Prinzip der Leserführung hält der Autor konsequent durch. Der Leser wird mit der Nase auf alles gestoßen, was er mögen und nicht mögen soll. Wer es mag.

Der Taschenbuchausgabe von Lea hat der Autor ein Nachwort angehängt. Dieses Nachwort ist für ausgesprochen dumme Dingos verfasst. Hier erklärt der Autor in einer Liebenswürdigkeit, die er besser vermieden hätte, sein Buch. Weil ich Ihnen nicht das ganze Nachwort nacherzählen will, führe ich Ihnen nur die ersten Sätze vor. Als Deutscher bin ich von Haus aus zum Hundeführer begabt.

„Dieses Buch handelt von einer Erfahrung, die wir uns ungern eingestehen: Auch diejenigen Menschen, mit denen wir durch große Intimität verbunden sind, können uns fremd werden.“ Ja, warum auch nicht.

„Dieses Thema war in meinen Romanen stets gegenwärtig, doch eher auf indirekte Weise.“ Er preist seinen neuen Roman als ein furchtloses Enthüllungsbuch an. Ein Interview wäre viel lustiger gewesen.

„Wie ließ sich das Thema am besten instrumentieren?“ Damit auch der letzte Leser merkt, dass Musikinstrumente vorkommen. Dieser Autor spricht außerdem gern über seine Fähigkeiten. Und er spricht durch die Blume.

„Es lag nahe, der Erzählung die Form einer Tragödie zu geben: Jemand handelt aus bester Absicht und führt gerade dadurch eine Katastrophe herbei.“ Es soll Leute geben, die meinen, dass es egal ist, wie jemand handelt, weil: am Ende stirbt er doch. Manche halten das für tragisch genug. Wie kann ein Roman eine Erzählung, ein Instrumentiertes und dann noch eine Tragödie sein? Ein bisschen spannend muss es ja bleiben.

„Aus welcher Perspektive sollte die Geschichte erzählt werden?“ Wie gesagt, ein Interview wäre lustiger gewesen.

„Die Lösung war, eine neue Figur einzuführen, die dem Vater zuhörte.“ Der Vater erzählt einem Fremden die Geschichte seiner Tochter, und der Fremde kommentiert das dann. So wird die Geschichte der Tochter sozusagen einem Mittelsmann berichtet, der sie dem Leser vermittelt. Tja. Das Leiden der Anderen.

„Die beiden Männer sind Naturwissenschaftler, die von sich sagen, sie hätten die Sprache der Gefühle nicht gelernt.“ Sie kennen auch keine Schimpfwörter. Nur Lea kennt welche.

Das sind schöne Gegenden, von denen Herr Mercier erzählt. Das Problem ist, dass er an jeden Absatz ein Vorwort und ein Nachwort pappt. So weiß der Leser nach einigen Seiten nicht mehr, was Vorwort, was Nachwort, und was Roman ist.

Kapitel sieben ist ein schlimmes Beispiel. Da berichtet der Vater, der letztlich auch stirbt und zwar durch sich selbst, dem Fremden von einer verlorenen Bewegung, die er an seiner Tochter bemerkt. Heiner Müller, als er noch lebte, sagte über die Texte Kafkas, dass dieser Gesten ohne Bezugssystem beschreibe. Der Autor von Lea belästigt den Leser mit Bezugssystemen. Auch traut er einem Naturwissenschaftler, selbst wenn er Vater ist, keinen kalten, fremden, wissenschaftlichen, keinen außerirdisch interessierten Blick auf diese Bruchstücke, die einst seine Tochter waren, zu. Die Figur wirkt nicht durchdacht.

Wenn Bernhard Walcher (literaturkritik 7/2007) den Roman des Schweizer Professors in eine Traditionslinie mit Grimmelshausen und seinem „Simplicissimus“ stellt, sagt das mehr über die Sehnsüchte des Rezensenten als über Bieris Buch. Grimmelshausens Figur ist ja keine Aussteiger-, sondern eine Mitmacher-Figur, die mehr Ähnlichkeiten mit dem Hundehändler Schweijk als mit dem Biokybernetikers van Vliet aufweist.

Lea ist ein Künstlerroman, geschrieben von einem Wiedergänger Gottfried Kellers, ein wenig zu höflich und zu langatmig. Wer allerdings wissen will, warum Musiker ihre Instrumente zerschmettern, kann hier einiges über die Gründe und Abgründe dieser Geste erfahren.

[Pascal Mercier: Lea. Novelle, 256 Seiten, Taschenbuchausgabe von 2009 für 9 Euro]

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