2011-05-03

LESEN UND LESEN LASSEN

Heinar Kipphardt: MÄRZ. Roman und Materialien


Wofür bekommt einer den Bremer Literaturpreis 1977 und viele, meist zustimmende Post aus allen (beiden) Teilen Deutschlands, auch von Medizinern, und euphorische Kritiken?

Lenz, Schmerz, Merz, Martial.

„Was übrigens den Büchner mit seiner LENZ-Erzählung angeht, so irrt sich Paul Kruntorad auch hier, Büchner hat für seine Zwecke seitenlang den Bericht des Pfarrers Oberlin benutzt, ohne anzumerken, wo er ihm folgt, wo nicht und warum er ihn an anderen Stellen ändert. Immer noch gibt es den Bericht von Oberlin und Büchners LENZ, zum Studium des Tatsächlichen in der Literatur empfohlen.“ (281, Kipphardt zur Frage des Authentischen in seinem Roman)

In der Literaturgeschichtsschreibung zu den 70er Jahren der BRD kommt Kipphardt meistens nur mit seinen Theaterstücken vor, politisch engagiertes Theater von OPPENHEIMER bis EICHMANN.

„Der Roman handelt nicht von 'Genie und Wahnsinn', aber wir beobachten in unserer Gesellschaft einen enormen Rückgang an Phantasie, an Selbstbestimmung, an Individualität. Wir beobachten einen unglaublichen Verlust an sinnlicher Erfahrung, an Sehen, Hören und Schmeckenkönnen, an Produktivität, in der sich das jeweilige Ich ausdrückt. Wir sehen Leute, die nur noch genussfähig sind, insofern sie etwas kaufen, etwas erwerben. Das ist eine sehr merkwürdige, sich auf bloßes Haben reduzierende Verwandlung im Gebrauch von Sinnlichkeit. Diesen bestimmten produktivitätsfeindlichen und auch kulturfeindlichen Aspekt in unserer Gesellschaft hat Marx, glaube ich, sehr umfassend beschrieben.“ (267, Kipphardt, Das Elend der Psychiatrie, 1976)

Der Titel verweist, gewollt, durchsichtig auf Büchners große Erzählung. So schrieb er hin, und bekam Ärger und Preise, denn er, der gewesende Psychiater, hatte sich frei bedient an Texten eines Psychiatriepatienten (veröffentlicht von einem Berufskollegen), ihm einen Abschlag gezahlt und die Texte in seine Produktion eingespeist.

„Vielen Dank für die Übersendung und Widmung Ihres Buches 'März'. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich mich von diesem Werk entschieden distanziere, und zwar nicht wegen Ihrer Stellungnahme zur Psychiatrie, sondern wegen Ihrer Verwendung der psychopathologischen Texte, die Sie ja nicht bloß zu einer Anregung benützt haben, wie Sie es am Schluss Ihres Buches vermerken. Ich bin bestürzt, mit welcher Unverfrorenheit Sie die verschiedensten Auszüge aus meinen Büchern, auch Texte der verschiedensten Patienten, teils wortgetreu, teils entstellt, ohne Quellenangabe in Ihrem Buch abdrucken ließen. Aus unserer Korrespondenz und Ihrer Spende an Alexander konnten Sie das Recht zu einer solchen Plagiierung keinesfalls herleiten.“ (254, Leo Navratil an Heinar Kipphardt, 15.04.1976)

Andererseits, schreibt der Autor, würde der Roman unleserlich werden, wenn er zu jedem Zitat eine Fußnote einfügte. Besser dieses Problem, als gedichtete Doktorarbeiten, meint der Rezensent. Wie verhält es sich eigentlich mit dem geistigem Eigentum von Menschen, die mit sich selbst als Person oder Ich nichts anfangen können? Ist der Arzt, der Cheffe, der Psychiater berechtigt, 'seine' Patienten zu vertreten? Und wie verhält es sich mit dem geistigen Eigentum von Leuten, denen es vor allem aufs Eigentum ankommt? Die Materialien zum Roman dokumentieren einen kleinen, feinen Anschlag aufs Urheberrecht.

„Niederspritzen: psychiatrischer Jargon, einen Patienten mit Spritzen ruhig zu stellen“ (231, Glossar)

März ist abgängig, der kurze Frühling der Revolution / Psychiatrie / Krankheit / Poesie endet im deutschesten (und im bemühtesten) aller Monate, im November. So fand der Arzt Kofler seinen Patienten letztlich vor:

„An einem kalten Novembertag fuhr Kofler nachts aus der Klinik nach Hause, an demalten Gutshof vorbei und den Obstwiesen. Wo der Feldweg kreuzt, sieht er im Scheinwerferlicht das Stoppschild mit dem eingeschriebenen 'Ecce homo' und einem roten Pfeil. Er fährt in den Feldweg und in die Wiese hinein, springt aus dem Wagen, ohne den Motor abzustellen und sucht nach dem Apfelbaum. 'Herr März! Herr März!' Er läuft zu dem Wagen zurück und kurvt zwischen den Bäumen umher. Erleichtert sieht er im Nebenlicht der Scheinwerfer tatsächlich wieder den nackten März gekreuzigt im nunmehr kahlen Baum stehen, lächelnd als Kofler zu ihm raufsieht und eine Zigarette im Mund. 'Kommen Sie runter, Herr März! Kommen Sie mit mir nach Hause, denn Sie erkälten sich ja! Kommen Sie, Herr März!' Da öffnet der Gekreuzigte die Augen und zündet sich wie damals eine Zigarette an. Eine wilde Feuerbrunst fährt über März und den ganzen benzinübergossenen Baum, in dem man März nicht mehr sieht.“ (224)

In dieser grandiosen Schlussszene, die entfernt an Tarkovskijs OPFER erinnert (oder umgekehrt?), ist dem Roman deutlich seine Herkunft aus dem Filmdrehbuch anzumerken.

„Ich gehöre nicht zu euch, ich habe niemals zu euch gehört, und ich will niemals zu euch gehören, denn ich habe euch kennengelernt. Abgerichtete Objekte und Tubenwurstesser.“ (190)

In der Figur des Schizos Alexander März, die Elemente einer realen Krankengeschichte enthält, formuliert Kipphardt präzise seine Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft, die gerne mit etwas ähnlichem wie Demokratie verwechselt wird. Die Sammlung der Aufzeichnungen des Psychiatriepatienten durch Kofler reflektiert, ohne das finanzielle Moment direkt zur Kofler-März-Beziehung in Relation zu setzen, die Skrupel des Autors. Reale Verwertung und Kritik an der Verwertung der Krankheit im Roman stehen unvermittelt nebeneinander. Der Material-Anhang versucht keine Vermittlung, er dokumentiert lediglich einige Umstände der Produktion.

„An den Herrn Minister des Kultes in Bayern Maier.
Als Sammler von Kulturdokumenten beehre ich mich, Ihnen ein besonders ausdrucksvolles zu überreichen. Ich entdeckelte den anliegenden Flaschenverschluss. Dort wird die Frage gestellt: Welches Wort kennt man in über 130 Ländern? Die Antwort wird auf der Innenseite erteilt und lautet: Coca Cola.
Hochachtungsvoll
Alexander März
Anlage 1 Deckel der Firma Coca Cola, abgefüllt in Landshut.
P.S. 1 Gehört die Frage in den Bereich der Sprachwissenschaft oder des Völkerrechts?
P.S. 2 Der Deckel, massenhaft hergestellt, wäre ein sehr schönes (Partei)Abzeichen.“ (178)

Das erinnert an das beinahe gleichzeitig, aber etwas knackiger formulierte „Heil Coca-Cola“ im Ekel-Monolog von Heiner Müllers HAMLETMASCHINE, ist aber auch prächtig gelungen, wie der Rezensent findet. Im Roman kann das schon mal ausgeführt werden, hier schön als Kidnapping der Kultur durch Coca-Cola in der Filiale Landshut. Für Interessierte sei hier ein Buchtipp angehängt: David Greising, Die Welt soll Coca-Cola trinken (eine Selbstbeweihräucherung), 1999.

„Lockes Definition des Wahnsinns als falsche Assoziation der Ideen.“ (169)

„Dagegen März: 'Der Wahnsinn ist die richtige Verbindung der (gefürchteten) Ideen. Der Netzhaut entlang ins Grüne.'“ (169)

Der Roman gebraucht das Mittel der Montage, das durchgängig, so dass das Schriftbild in jedem der einzelnen Kapitel meist aus großen und kleinen Blöcken besteht. Das macht die Lektüre angenehm, weil es die Augen nicht anstrengt.

„Der Psychiater weiß nicht, dass er den Fragen ausweicht, die der Schizophrene stellt, wenn er ihn mit einer Spritze Haloperidol zur Kapitulation zwingt. Die Schizophrenie ist für ihn dann ein Haloperidol-Mangelsyndrom.“ (168)

Die Kapitel gliedern sich wie folgt: 1. ein Kapitel ohne Überschrift (7-20), 2. Rekonstruktion einer vorklinischen Karriere (21-41), Rekonstruktion einer vorklinischen Karriere 2 (42-48), Rekonstruktion einer vorklinischen Karriere 3 (49-65), Beschreibung einer klinischen Karriere 1 (66-88), Beschreibung einer klinischen Karriere 2 (89-114), Lohberg als Ganzes (115-132), Exkurs (133-134), Therapiegemeinschaft (135-163), Kofler-Ansichten (164-169), Erinnerungen an März (170-178), Andere Patienten (179-189), Hat März eine Philosophie? (190-196), Hanna und Alexander (197-199), Die Resenrose im Herbst auch blüht (200-207), Nachtrag (208-225). Die 80 Seiten starken Materialien sollten vorweg gelesen werden, wenn die Lektüre des Buchs fürs Studium nachgewiesen werden muss. Da weiß man gleich was über die Umstände. Ansonsten kann gelesen werden, wie es gerade kommt, oder höchstanständig von vorne nach hinten durch. Entscheidend ist nicht immer, was hinten raus kommt.

„Es gibt auch die Liebe, dass man nur miteinander verwesen kann. Schlugen die Sargbretter raus, um miteinander zu verwesen.“ (149)

Sätze wie dieser sind 30 Jahre nach Kipphardt leider selten zu lesen.

„Ein heute in der Bundesrepublik geborenes Kind hat eine mehrfach größere Chance, in eine Heilanstalt zu kommen als auf eine Universität.“ (134)

Der Rezensent ist sich nicht sicher, ob er sich glücklich schätzen soll, es auf eine Universität geschafft zu haben. Im Vergleich zu den geschilderten Verhältnissen (niemals vergessen, dass hier ein Fachmann schreibt, vergleichbar mit Döblin oder Benn) war meine Universität eine lässige Anstalt, meist für wild oder schlau daher kommende junge Mittelschichtmenschen wie ihn. An der durchs Figuren-Rohr Kofler geblasenen Ansicht über Heilanstalten und Universitäten im Spätkapitalismus dürfte sich wenig geändert haben.

„März, Äußerungen. 'Als industriell Gemordeter erscheine ich als Gespenst.'
'Fabrik und Büro sind die Tummelplätze der pflichtblassen Doppelgänger. Erscheint einmal morgens der andere (Ich), lässt ihn der Werkschutz nicht rein. Im Keller zwischen den Bretterspalten warten die bleichen Ersatzdoppelgänger.'
'Man hat im Winter Laub in mich hineingeworfen. Das vermodert.'
'Ich liege in einer verlöteten Konservendose. Den Kopf halb zur Seite gelegt, schöpfe ich Luft aus der Luftblase.'“ (131)

Wir leben nicht in einem gelben Untersee-Boot, ganz sicher nicht, auch nicht mit Prochnow und Grönemeier in einer Männerpension im Atlantik, nein, es ist viel schlimmer: In der März-Figur beschreibt Kipphardt die Katastrophe der Kursk aus dem Blick-Winkel des blind schreibenden Kolesnikov. Er kannte ihn. Und was für ein schöner Traum wird hier geträumt, die Auferstehung der Gemordeten, deren Name Legion ist. Darum Angst haben vor jedem leeren Stuhl, liebe Leser. Zu 'pflichtblassen' Doppelgängern noch 'Ersatzdoppelgänger' zu erfinden, ist eine schöne Leistung, von der der Rezensent allerdings nicht sagen kann, ob sie auf das (Giro-) Konto des Autors oder eines unbekannten Patienten geht. Katatonie als Denkmal. Das entsprechende Ersatz-Doppelgänger-Schatten-Museum wäre dann die Autobahn aus Franks Buch DER VATER. Die Toten sind nicht tot, und die Lebenden leben nicht.

„Was die Bausubstanz der alten Klinik angeht, so sähe er keinen vernünftigen Grund, sie zu erhalten. Sie könnte nach seiner Ansicht in kleinen Einheiten innerhalb von zehn Jahren ganz ersetzt werden, ohne die Arbeit der Klinik einzuschränken. Zielprojektion schien ihm eine wirtschaftlich entwickelte, unabhängige und sozial durchdachte psychiatrische Lebensgemeinschaft, eine Art beschützende Stadt für psychisch Kranke, die ihren unverwechselbaren Platz in einem marktwirtschaftlich orientierten Sozialstaat finden muss, denn unzweifelhaft nähmen die psychischen Erkrankungen in einer modernen Gesellschaft zu. Übrigens sei diese Lebensgemeinschaft, die eine wirtschaftlich gesunde Basis durchaus haben könne, in der alten Anstalt vorgebildet. Auch heute sei Lohberg undenkbar ohne die Einrichtungen der Selbstversorgung, die überwiegend von Patienten betrieben würden, er nenne nur die Großküche, die Wäscherei, das Heizwerk, die Bäckerei, die Schlosserei, die Tischlerei, die Gärtnerei, das Gut, die Molkerei und die Karpfenzucht. Patienten arbeiten im pflegerischen Stationsdienst, in der Verwaltung und heute auch schon in einigen durchaus konkurrenzfähigen Fertigungsbetrieben. Die Resozialisierung des Kranken sei die Wiederherstellung seiner Fähigkeit, in unserer Industriegesellschaft wertschöpfende Arbeit zu leisten.“ (120)

Diese Ausführung eines unermüdlichen Kollegen von Doktor Kofler, Feuerstein mit Namen, illustrieren das gängige Ziel der Psychiatrie als einer Besserungsanstalt, ganz ähnlich einem Gefängnis, mit dem sie auch die strikte Geschlechtertrennung gemein hat. Letzteres ist wohl ein bislang nicht kurierter Blinddarm der faschistischen Psychiatrie, so in etwa der Autor. Seht her, sie sind doch zu etwas nütze, ihr müsst sie nicht vergasen, ist der Unterton der Ausführungen der Feuerstein-Figur. Die Gestörten, Störenden, den kapitalistischen Burg-Frieden störenden Störenfriede sind mit der chemischen Keule viel effizienter auf Linie zu bringen als ihre Leidensgenossen einige Jahrzehnte zuvor. Der Volkssport Pillenwerfen findet im psychiatrischen Personal besonders begeisterte Anhänger, ist aber in der Psychiatrie im Vergleich zum gern zitierten Otto Normalverbraucher nur leicht verschärft. Die Angst des Normalen, sich unweit des Verrückten auf derselben Skala wiederzufinden, wird als bekannt vorausgesetzt. Wo Patienten medikamentös 'eingestellt' werden, ist die Nähe zur LINGUA TERTII IMPERII (Victor Klemperer) offensichtlich. Einstellung ist ein zentraler Begriff des faschistischen Begriffsgewabers aus Organischem und Technischem. Wer dem Verwertungskreislauf zugeführt werden kann, gilt, wenn schon nicht als 'vollwertiges' Mitglied der Gesellschaft, so doch wenigstens nicht als Kostenfaktor. Die Löhne, ob im Knast oder in anderen Anstalten, sind ein schlechter Witz und ein lang andauernder Vorgeschmack auf das, was den Ideologen des so genannten freien Marktes vorschwebt. Das schreibt Kipphardt nicht, es lässt sich aber ablesen. Die Akzeptanz der Psychiatrie im Kapitalismus hängt, so Kipphardt via Feuerstein, von ihrer möglichen Mehrwerterzeugung ab.

„'Mit meiner felsenfesten Phantasie', sagte März, 'sehe ich die Zukunft meiner Wirklichkeit bereits als Vergangenheit an.' 'Heißt das, Sie wären in Ihrer Phantasie tot?' fragte Kofler. 'Ich bin in meiner Wirklichkeit tot, so ist mir die Zukunft des Irrenhauses sicher.'“ (99)

Was ist dem noch hinzuzufügen? Die Verweigerung von Geschichte für ganze Generationen, mit exemplarischer Drastik an Outcasts statuiert, schwebt als permanente Drohung über jedem Einzelnen. Kipphardts Verdienst ist es, einen Psychiatrieroman abseits von Gefühlskitsch, aber ohne Angst vor dem Entwurf einer (nahezu kleistschen) Idylle, verfasst zu haben. Sein Verdient angesichts einer sechsstelligen Auflage des Buches MÄRZ. ROMAN UND MATERILIEN fällt da fast nicht mehr ins Gewicht, zumal er nicht alle Auflagen erlebte.

„M. hält sich für sich. (Datum)“ (87)

Diese Diagnose, so erschreckend das klingt, lässt sich in der Bundesrepublik Deutschland wohl für 70-80 Millionen Menschen stellen. Anders gesagt: 70 Millionen Menschen können nicht richtig Nicht-Ich sein.

„An den Internationalen Gerichtshof
Den Haag, Holland und Niederlande.
Werter Gerichtshof, Polizeikomplott und Verfassungsschutz erzwingen Erscheinen falscher Mutterfiguren im Fernsehen, dass ich vertusche, was uns alle umbringt und sie ermördert hat. Was hat uns denn alle in diese kleinen Männchen verschrumpft, denen das A und das B aus den Ohren tropft und lecken als speichelnde Lecker, und wer zerkautert das Hirn in Trockenfutter? Das sollen Sie und schnell herausfinden, Mitteilung machen im Amtsblatt. Sind das nun hier schon Verhöre, Doktoren und Pfleger verkleidet? Sind Bohnen Geschlechtsorgane und soll das Gewehr nicht auch zu diesem Weihnachtsfest geladen sein?
Aussagebereit Mörder März“ (71)

Wem fiele nicht sofort der TATORT LINDENSTRASSE ein?

„März. 'Was ich in dieser Anstalt sage, sagt manchmal auch die Anstalt.'“ (54)

Vom Ich wendet sich März ab, sieht sich selbst (auch) als Sprachrohr, als Mitteiler oder als Mitteilung, jedenfalls als eine verquere Möglichkeit jenseits dessen, was landläufig Ich genannt wird. Das gesellschaftliche Sein der Figur März, und das ist angesichts eines Autors, dessen Denken an Hegel und Marx geschult ist, legitim zu sagen, bestimmt ihr auf der Kippe balancierendes Bewusstsein. Ein Extremfall selbst gelebten, aus unfreien und freien Stücken bestehenden Lebens.

„Kofler, Notizen. Niemand ist heute so weit, die Schizophrenie unmittelbar aus der familiären oder sozialen Situation abzuleiten. Was wir tun können ist, die interfamiliäre und soziale Umwelt der Schizophrenen genau zu beschreiben, bis wir die Teile in einen sinnvollen Zusammenhang bringen können. Wir suchen für das ganz außergewöhnliche Bild der Schizophrenie ganz außergewöhnliche Erlebnisse, es scheint aber, es genügen die ganz gewöhnlichen Schrecknisse, mit denen wir alle nur mühsam fertig werden. Der Schizophrene ist ein Leidensgefährte. Er leidet an einem Reichtum inneren Lebens, und er möchte sein, was er wirklich ist.“ (48)

Was so reformerisch und alternativ daherkommt, kann auch als alter Traum des Mediziners vom Heilen gelesen werden, den Kipphardt hier ironisiert. Wer sich für sich selbst hält, kommt an dem Wunsch, zu sein, was er wirklich ist, kaum vorbei.

„Familienfoto. Vor dem Spiegel die Übung: Pokerface, keine Empfindung zeigen. Auf Nadelstiche nicht reagieren, nicht zucken bei der Berührung mit nachglühenden Streichholzkuppen, Kamikazeflieger.“ (26)

Als Beilage zur Lektüre des Kapitels empfiehlt der Rezensent das Betrachten eigener Familienfotos und des Films TAXI DRIVER.

„März ist seit 11 Monaten hier abgängig. Bisher ward keine Spur von ihm gefunden. Ein Lieferwagen der Anstaltsgärtnerei, mit der Flucht von März in Verbindung gebracht, wurde unversehrt im Isarkanal geborgen.“ (7)

Seine Habseligkeiten überantwortet der Flüchtling März anderen Hier Gebliebenen (Zurück Gebliebenen), Patienten und, soweit es Schriftliches betrifft, dem Arzt Kofler. Diese einer (wirklichen) Wirklichkeit entlehnte Legende ist die Basis für Kipphardts Roman-Text (wie auch für den Film-Text und den Stück-Text).

„In diesem späten Sommer fühle ich mich wie tot, und das ist angenehm, abzusterben eine Wollust. Ich bin 41, es kommt der Herbst, und der Winter bald. Die Büsche werden braun und grau und liegen verdorrt unterm Schnee. Ich nähere mich meinen Patienten. Bald gehe ich hier fort. (Tagebucheintragung Koflers, Abteilungsarzt der psychiatrischen Landesklinik Lohberg.)“ (7)

Das ist Hölderlin von mehreren Seiten, es fehlen nur die Schwäne. Das 'weh mir' ist gestrichen, die offensichtlichste Veränderung, die Einverständnis (Brecht) oder Fügung als erstes Lernziel festschreibt.

Jakob Michael Reinhold Lenz fasst den kapitalistischen Fluch der Person in einem Satz ohne Punkt und Komma zusammen: „Ich bin bis ins Grab“ (an Johann Daniel Salzmann, 1772)

Gegenwart ist ein dehnbarer Begriff.

[Heinar Kipphardt: März. Roman und Materialien, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt [1978] 1990]


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