2010-01-19

GESTEN

ich erinnere mich an ein interview, dass ich vor jahren zwei eifrigen, mit einer videokamera ausgerüsteten schülerinnen gab. die frage, soweit ich mich erinnern kann, lautete: was ist schönheit für dich? ich habe der versuchung widerstanden, die frage zu zerpflücken, um zu zeigen, dass ich das abitur bereits hinter mir habe. ich habe sie einfach beantwortet.
meine antwort lautete damals ungefähr so: "ich kann nicht sagen, dass ich diesen oder jenen menschen besonders schön finde. schönheit finde ich in kleinen gesten." als beispiel nannte ich wohl die bewegung eines arms oder etwas ähnliches. das war um das jahr 2005 herum.
es mag zwar allgemeine kriterien geben oder das, was man/frau dafür hält. doch diese kriterien interessieren nicht wirklich. sie helfen niemandem - ausser bestimmten industriezweigen. nennen wir sie den neurotisch-bulämischen komplex (NBK). eine geste ist immer bewegung, nichts eingefrorenes. sie ist ein präsentes dazwischen mit dem versprechen von vernunft, moral oder schönheit. "eine schöne geste", "eine grosse geste" ist ein kompliment, dass jede/r gerne hört.
es gibt auch schiefe gesten. hierzu zählen die ungezählten, ungefragten befreiungsaktionen. hierzu zählt auch der angriffskrieg der usa gegen den irak, also der ungefragte import von freiheit in form von bewaffnetem massentourismus. die so befreiten wollten und wollen sich aber offenbar auch von ihren befreiern befreien. wer hätte das gedacht? schiefe gesten finden sich überall.
eine schiefe geste ist womöglich auch die geldspende für die vom erdbeben traumatisierte haitianische bevölkerung. vor einigen tagen sass ich zusammen mit einer freundin in einem kleinen café im berliner bezirk friedrichshain und fragte sie, ob sie schon für haiti gespendet hätte. sie verneinte. diese antwort bestärkte mich in meinen zweifeln. warum sollte ich spenden? woher weiss ich, wo mein geld ankommt? wie sollte ich das rechtfertigen? und vor wem? "gott ist tot. man hat sein skelett gefunden. es ist 10 kilometer breit und 30 kilometer lang" (heiner müller). ich war allein mit mir und den toten.
und dann habe ich doch gespendet. ich habe den teuersten anruf der letzten zwölf monate getätigt. 5 euro sind dahin. es ist eine geste. es ist keine beruhigende geste. es ist eine schiefe geste. wie sagte ernesto che guevara: "solidarität ist die zärtlichkeit der völker." so war mein anruf als zärtliche geste gerechtfertigt durch das zitat eines toten, der zeit seines lebens erfahrungen mit schiefen gesten gesammelt hat.
vielleicht haben gesten, beispiele und autoritäten etwas gemein. sie sind notwendig, aber schief.

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