2010-01-03

THOMAS HARLAN: DIE STADT YS

es ist ein seltsames buch. es ufert aus. es nimmt den leser mit. es nimmt ihn mit hinter die grenzen seiner selbstverständlichkeit. es hat vieles, was von einem buch erwartet wird: zwei buchdeckel, kapitel, wörter, absätze, kapitel, geschichten, figuren. vieles unerwartete, vieles nicht erwartbare kommt auch auf den leser zu: thomas harlan ist nicht an eindeutigkeiten interessiert, nicht an lesebühnenwitzen (die für mehr als zehn leseminuten ohnehin nichts taugen, so wie ponys nichts für polarexpeditionen sind) und runden sachen.

DIE STADT YS ist ein politisches buch. es ist kein schwarz-, sondern eine art graubuch des kommunismus, eines von vielen, von ungezählten möglichen, mögliches und unmögliches beschreibend.

[...] Die schönsten Menschen, denen ich je im Leben begegnet bin, waren Kommunisten. Das stimmt, so wie ich es sage. Es gibt keine Schöneren. Gab keine, wird keine geben, Kommunisten gibt es nicht mehr, sie sind ausgestorben. Etwas, womit ich nicht fertig werde, ist der Unterschied zwischen den Kommunisten und dem Kommunismus. Warum es ihn gibt, begreife ich nicht. Doch er ist da, da ist er: Der Kommunis-|17|mus kann mit den Kommunisten nichts anfangen; sie stören ihn. Weil aber der Kommunismus von Kommunisten gemacht wird und also von denen, die ihn machen, nicht gestört werden kann, wird er eben doch gestört; woraus man den Schluss ziehen muss, dass, wer den Kommunismus, ja, wie soll man das sonst nennen, wer den Kommunismus 'macht', aufhören muss, Kommunist zu sein und sich in eine Sache verwandelt, die gute Sache des Kommunismus; doch wie er dabei den Widerspruch überbrückt zwischen dem Kommunismus, der er ist oder war, und dem Kommunismus, der ihn zum Kommunisten gemacht hat, weiß ich nicht; überbrücken kann man Widersprüche ohnehin nicht, nur auflösen, aber das ginge jetzt zu weit; und wahrscheinlich geht sowieso alles zu weit und wahrscheinlich ist der Tod der Kommunisten, die für den Kommunismus gestorben sind und noch immer sterben, der Tod des Kommunismus, und so sind also die Schönen, die einmalig der besseren Welt ähnlichen, der herrlichen Welt verwandten Wesen einmalig herrlich und der Tod auch der guten Sache und die Sache schlecht und umso schlechter als das Gute noch lange nicht tot. Überbrückt doch, Kinder, um Gottes willen, nichts! Punkt. Absatz. (16-17)

überbrückungen, unterbrückungen sind sache und verfahren dieses buchs. geschichten werden erzählt, wie sie doch keiner glaubt, der schon alles und noch nichts gesehen hat, geschichten aus einem land vor unserer zeit, das zu seiner zeit ein land nach unserer zeit sein wollte, und das von staats wegen abstarb. DIE STADT YS ist auch ein buch über teile der jüngsten russischen geschichte mit ihren ausläufern in die zeiten vor dieser jüngsten zeit.

harlan handelt, das ist sein handeln, schriftlich vom umgang der lebenden mit den toten und vom (mutmasslichen) umgang der toten mit den lebenden und untereinander. harlan liefert die amüsante beschreibung einer internationalen, multikulturellen, aber-, über- und unterwitzigen totenstadt, ohne sich mit billigen witzen aufzuhalten. kalauer nimmt er mit, wenn er sie in seinen grossen wandteppich einweben kann, unseren wandteppich, der vor unserer sehnsucht nach einer anderen welt hängt, oder

[...] hinter einem mit Latten verschalten Jenseits [...] (235)

je nach dem standpunkt.

[thomas harlan: die stadt ys und andere geschichten vom ewigen leben, frankfurt am main: eichborn 2007, 280 seiten, erhältlich bei den amazonen und bibliothekarinnen ihres vertraue[r]ns, !vorsicht - enthält anleitungen zum besonderen gebrauch von honigbienen!]

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