2010-12-24

LESEFEHLER CHAUSSEESTRASSE

an einer ladenfront
lese ich
HORMONE FÜR DIE GANZE FAMILIE

erst auf den zweiten
blick erkenne ich meinen fehler
HAARMODEN FÜR DIE GANZE FAMILIE


| thomas wettengel © 2010-12-24 |

2010-12-14

BEWERBUNG ALS TOTER MANN

absender


adressat


datum, unort


sehr geehrte damen und herren tote

mit grossem interesse habe ich ihre todesanzeigen zur kenntnis genommen
vor allem der fehlenden interpunktion habe ich mit tiefer bestürzung entnommen
wie dringend sie nachschub für das reich der toten suchen

auf dem gebiete des verwesens habe ich bereits einige erfahrungen sammeln können
die ich mit einer anstellung bei ihnen gern weiter vertiefen und erweitern möchte
meine stärken sehe ich besonders auf dem gebiet der totenbeschwörung
als motivierter zukünftiger toter sehe ich es als meine selbstverständliche verpflichtung an
ständig meinen toten mann zu stehen

ich weiss die geduld des papiers zu würdigen auf dem diese sätze stehen
ich denke dass ich nichts zu ihrem nichts etwas beitragen kann
oder wie es das sprichwort so treffend formuliert
von nichts kommt nichts

meine zahlreichen qualifikationen entnehmen sie bitte den anhängen
ich verbleibe mit der bitte um letztbegrünung sowie

mit freundlichen grüssen


unterschrift


anhang 1 geburtsurkunde
anhang 2 aktuelle krankenakte (inkl. speichelprobe u. röntgenaufnahme verfallender und bereits verfallener organe)
anhang 3 aktueller zahnstand
anhang 4 vollständige übersicht über krankenhaus-, klinik- und kuraufenthalte
anhang 5 vom bundesministerium für lamellenverbreiterung kalkulierte restlaufzeit, vor- und nachstrafen
anhang 6 vom bundesministerium für lamellenverbreiterung gegengezeichnete schonungsloseste selbstkritik
anhang 7 vom bundesministerium für lamellenverbreiterung beglaubigte exkommunikationen aus sämtlichen relevanten parteien, massenorganisationen, verbänden und sonstigen kollektiven verwicklungen
anhang 8 vom bundesministerium für lamellenverbreiterung bestätigte grossschadensereignisse (super-gau etc.) in der näheren umgebung des bewerbers
anhang 9 vom bundesministerium für lamellenverbreiterung urkundlich besonders verabscheute nekrophile literarische und sonstige so genannte künstlerische erzeugnisse des bewerbers (auswahl)
anhang 10 vordrucke für sterbeurkunde und obduktionsbericht
anhang 11 vom bundesministerium für lamellenverbreiterung durchschlagend beglaubigte freiwillige bereitschaftserklärung zum sozialverträglichen frühableben
anhang 12 vor- und abgefertiger vordruck des kürzestmöglichen nachrufs


| thomas wettengel © 2010-12-14 |

2010-12-10

LESEN UND LESEN LASSEN

Ilja Ehrenburg: Der zweite Tag

Der Roman hebt mit einem religiösen Vorspruch an (Genesis 7, 8). Und tatsächlich liest sich das Anfang der 1930er Jahre entstandene Werk auch wie ein religiöser Text. Diese Emphase der Gewissheit ist religiös, und die Religion des Schriftstellers heisst: Kommunismus.

ehrenburg, mit seinem / optimismus aus disziplin und / verachtung für das alte

"Er weiß: er ist nicht der einzige. In Tomsk kann man noch ein paar Dutzend dieser traurigen Sonderlinge finden. In Moskau werden ihrer bestimmt ein paar Tausend sein. Professor Baitschenko nennt sie ‚Isgojs‘ [Waisen, Exilanten], Waska Smolin – ‚Klassenfeinde‘, Irina – ‚Verlorene‘. Sie alle haben recht: der Professor, Smolin und Irina." (66)

Und so will dieser Roman, der parteiisch die Realität der sozialistischen Industrialisierung unter Stalin anhand von Lebenswege verschiedener Figuren skizziert, Wirklichkeit abbilden. Es ist Wirklichkeit, dargestellt durch eine rote, aber nicht durch eine rosarote Brille. Und es ist die Wirklichkeit der Literatur. Was bleibt, ist im Nachhinein, und in einem solchen Nachhinein lebt der Rezensent, sowohl in Bezug auf den Text als auch im Hinblick auf das Dargestellte: Text.

Die Revolution kommt in der Wirklichkeit des Plans an. Und so endet der Roman auch mit einer flammenden Ansprache eines alten Partisanen aus dem Bürgerkrieg, in der der Kampfgeist der alten Zeit, das Vermächtnis der Toten beschworen wird, um das Stahlwerk, das Werk Stalins, voranzutreiben. Ehrenburg verschweigt nicht die Opfer, aber er ordnet sie ein. Das muss der Leser nicht mögen.

vom grossen vorhaben / bleiben die bücher, die / rechnung ablegen wie eier in die zeit, den wirt

Ehrenburgs Roman verschweigt nicht die Brutalisierung, die Verselbständigung der Rachegelüste im Kostüm der Bürokratie. Die Revolutionstribunale der Französischen Revolution, wir wissen es heute, kehrten, nach dem bekannten Bonmot Marxens aus dem "18. Brumaire", als Farce zurück: "[…] Man hörte auf zu beweisen und begann zu erschießen. […]" (78) Ehrenburg schreibt das Jahre vor den Moskauer Prozessen. Er schreibt auch, dass die Menschen an der Wolga einander auffressen. Das Warum verschweigt er.

Natürlich kommen auch Schädlinge vor, die Fleisch gewordenen Fehler:

"Die Komsomolzen hatten den Prozess gegen die Industriepartei noch gut in Erinnerung. Sie sagten: 'Das ist der Klassenfeind.' Die Erdarbeiter, die frisch vom Lande kamen und die man geringschätzig 'Pelzhosen' nannte, hatten nie von der Industriepartei gehört. Aber sie fühlten dunkel, dass arglistige Schädlinge ringsum lauerten. Der alte Mologin war überzeugt, dass die Schädlinge die Maschinen zuschanden reiten, wie die Poltergeister die Pferde. Andrjuschka glaubte weder an Gott noch an den Teufel, aber über den Fünfjahrplan und die Räuber des Weltkapitalismus wusste er Bescheid. Die Ausländer gaben den Schädlingen Geld. Sie glichen in keiner Hinsicht den ausländischen Fachleuten, die die Obere Kolonie bewohnten, und die abends die Grammophone aufzogen. Es waren andere Ausländer, unsichtbar und furchterregend. Morgens betrachteten die Bauarbeiter voll banger Unruhe die Kräne und Flaschenzüge. Die Wachtposten an den Toren prüften die Passierscheine. Die Schädlinge waren wendig. Fedka schwor, er werde einen Schädling fangen. In der Zeitung standen die Namen von Ingenieuren, die der Schädlingsarbeit überführt worden waren. Fedka brachte die Zeitung mit und sagte: 'Ich glaube einem Ingenieur nicht eine Silbe, weil er ein heimlicher Bourgeois ist.' Kolka schrie ihn an: 'Schädlinge kommen vor Gericht. Bei uns aber arbeiten ehrliche Spezialisten. Mach' keine Sachen, Fedka!' Fedka wurde böse: 'Es ist meine heilige Pflicht, so einen auf die Nadel zu spießen!' Als er erfuhr, dass Morosow Kusmin erwischt hatte, knurrte Fedka: 'Wieviele laufen noch frei herum!'" (283-284)

Die Industriepartei, ein Konstrukt der Bürokratie, kommt wie die anderen so genannten Schädlinge und Schädlingsorganisationen einfach nur vor, quasi als höhere Gewalt, die aber in dem religiösen Ringen, dem sich Ehrenburg verschrieben hat, durch eine noch höhere, eine höchste Macht besiegt werden müssen - mit eisernem Besen, mit stählerner Faust...

'Der zweite Tag' ist aus Konsumentensicht schwere Kost. Er ist religiöse Erbauungsliteratur für gebildete oder zu bildende Schichten. Interessant wird er dort, wo sich unerwartet Anknüpfungspunkte ergeben, zum 'Don Quichote' des Cervantes und zu Benjamins 'Geschichtsthesen'. Einer der 'Sonderlinge', ein Fleisch gewordenes unglückliches Bewusstsein auf einer sibirischen Grossbaustelle, schlüpft auf seinen Grübeleien durch die 'Jahrhundertwände' - ein Privileg der Phantasie - und eröffnet dem offenen Leser Einblicke:

"Wolodja war zur Untätigkeit verurteilt. Alles, was er machte – von der Arbeit in der Fabrik bis zu den mathematischen Aufgaben – war nur der Reflex eines fremden Lebens. Feindselig betrachtete er seine Vergangenheit. Er sah die ganze Überlegenheit seiner Knabenjahre: damals waren die Bremsvorrichtungen noch nicht in Tätigkeit. Sein Anfang war gut gewesen – nur Dummköpfe lachen über einen Don Quichote. War es nicht gleichgültig, dass Mischa oder Waska ein so heftiges Gefühl nicht verdienten? Windmühlen sind dennoch Feinde. Sie sind minderwertiger als Menschen, aber schwerer als sie zu vernichten. Sie stellen sich einem in den Weg und fordern zum Kampf heraus. Sie gleichen der Geschichte." (198-199)

Ehrenburg lässt seine Figuren nie ganz allein, immer ist der Erzähler zur Stelle, wenn es zu brenzlig wird. Das Feuer soll dort bleiben, wo es brauchbar ist, wo es seine Planstelle erfüllen kann. Dennoch sollte 'Der zweite Tag' nicht links liegen gelassen werden. Wer etwas über die Sowjetunion der 30er Jahre erfahren will, kommt an diesem Text kaum vorbei. Geschrieben in einem Staat, den es nicht mehr gibt, gedruckt in einem Staat, den es auch nicht mehr gibt. Ein Text, der, um es dramatisch zu sagen, auf Geschichte wartet.

[Ilja Ehrenburg: Der zweite Tag, übers. v. Rudolf Selke, Prag: Malik 1933]

| thomas wettengel © 2010-12-10 |

2010-11-19

TERROR

Fühlen Sie sich von Ihrer Suchmaschine verpixelt?

Können Sie sich vorstellen, in Ihrer Freizeit genauer hinzusehen?

Fühlen Sie sich sicher, wenn Sie Ihren Personalausweis betrachten?

Können Sie sich vorstellen, einen angespannt wirkenden und sich auffällig verhaltenden jungen Mann mit schwerem schwarzem Rucksack nach dem Weg zu fragen?

Fühlen Sie sich von Ihrer Fluggesellschaft verschaukelt?

Mögen Sie Musik, in der Textfetzen wie "manchmal will ich eine Bombe sein und einfach explodiern und alles was nicht stimmt würde auseinanderfalln" vorkommen?

Werden Sie misstrauisch, wenn Ihrem Gegenüber in der Bahn seit Minuten der Schweiß über das Gesicht läuft, obwohl die Klimaanlage funktioniert?

Hören Sie aus der Wohnung Ihres Nachbarn Geräusche, die für die Tageszeit und die freiheitliche Lebensart untypisch sind?

Willkommen zu Hause!

Heimat - da lacht keiner mehr!

| thomas wettengel © 2010-11-19 |

2010-10-29

TOTENKOPF

eigentlich finde ich ja den kommissar thiel aus dem münsteraner tatort ganz sympathisch. eine sympathische figur. und eigentlich ist das totenkopf-t-shirt, mit dem er immer wieder zum st-pauli-spiel fahren will, auch irgendwie kultig. und eigentlich sind die piraten ja auch irgendwie spannend und geheimnisvoll und ein bisschen auch die guten. tja, wenn da die ss-totenköpfe nicht wären. mit dem totenkopf ist man mental irgendwie zwischen goethes schreibtisch und himmlers kopfbedeckung angesiedelt, und wollte doch eigentlich nur irgendwie kultig und links sein und auch ein ganz normaler fussballgröler sein dürfen, aber mit stil.

ach mensch, die totenköpfe,, lustig sind sie ja, aber dann auch wieder nicht. beliebt sind sie auf t-shirts, buntschwarzen bekleidungsstücken, wie der sohn meiner freundin eines trägt. vielleicht ist es ja so, dass sich die leute die liebe zum freundlichen tod und zum totenkopf und das bewusstsein ihrer endlichkeit (plus das mehr oder weniger freundliche bekenntnis dazu) nicht von konfusen massenmördern klauen lassen wollen. das ist die freundliche variante, die die beliebtheit des totenkopfes erklärt.

das piktogramm verweist auf gefahrgut, gift, gefährliches, tödliches, es heisst: hier ist der tod zuhause, lass ihn drin, sonst kommt er raus.

| thomas wettengel © 2010-10-29 |

2010-10-06

STUNDEN DER WUT - STUTTGART

die bürgerlichen baden-württembergs, die bislang dachten, die polizei wäre dazu da, ihnen den pöbel von leib, leben und eigentum zu entfernen bzw. entfertn zu halten, merken, dass es nicht ganz so ist. als argument für die besondere brutalität der polizei müssen geschundene kinder und rentner herhalten. das "hilfe-für-afrika"-syndrom, erkennbar bspw. an in die kamera blickenden hungernden kindern, unterlegt mit spendenaufrufen und triefender musik, zeigt sich hier in seiner abwandlung als "hilfe-für-bäume"-syndrom. und nebenbei bemerkt: einen hässlicheren hbf. als den von stuttgart gibt es in keiner anderen deutschen grossstadt.

| thomas wettengel © 2010-10-06 |

2010-09-15

HAAR - DAS DEMOGRAPHISCHE MUSICAL [END-WURF] - für Christoph Schlingensief

2040. ein heruntergekommener mehrgenerationen-slum am rand der grossstadt. berlin - ney york - tokio. die grenzen sind dicht, stacheldraht an allen zufahrtsstrassen. die graue generation begehrt auf.
"schafft zwei, drei, viele toupets!" und "ha, ha, haare her!" skandieren die rollators. sie sind beinahe die einzigen, die sich gegen die rohende apathie im ghetto stellen. immer wieder scheitern sie - an den polizeisperren, an defekten herzschrittmachern, an ihrer uneinigkeit. schliesslich verbünden sie sich mit den verfeindeten gerontos - im hinreissenden duett "du bist mein doppelherz" zwischen martin (rollators) und monika (gerontos).
haare im abfluss, haare auf den zähnen, ein haar in der suppe? jenseits der verwertbarkeit und des sozialverträglichen frühablebens geht die graue garde vorwärts zum letzten gefecht gegen die gemeinen seitenscheitler des lebens, die schon lange nicht mehr an der korrekten betonfrisur erkennbar sind.
im schlussduett "liebe ist stärker als ein stützstrumpf" bezeugen martin und monika die macht der liebe. alle stimmen ein. in einem berauschenden abschiedsreigen verbrennen rollators und gerontos gemeinsam ihre rentenversicherungsnachweise beim tanz um die tonne des vergessens und den agenda-marterpfahl, wo eine puppe des aktuellen regierungschefs ihrer bestimmung harrt. die grosse befreiung ist nahe.

"deutscher sein heisst indianer sein" (heiner müller)

(dies ist die veränderte version eines entwurfs für ein musical, das von der theaterkapelle berlin abgelehnt wurde)

| thomas wettengel © 2010-09-15 |

2010-09-10

SIEGEN UND SIEGEN LASSEN

jochen rindt ist tot. schon lange.

jochen rindt ist weltmeister. schon lange.

jochen rindt ist als toter weltmeister geworden. schon lange.

jochen rindt ist selig gesprochen worden. kürzlich.

jochen rindt ist auffindbar in der rubrik absolotion, unterabteilung seligsprechungen. durchklicken lohnt sich.

jochen rindts seligsprechung kann besichtigt werden. hier.

jochen rindt bleibt unvergessen. bis jetzt.

2010-09-03

REGNEN UND REGNEN LASSEN

so viel regen gab es selten, nein, so viel regen gab es vorher nie, nein, so viel regen gab es seit beginn der wetteraufzeichnungen nicht.

das muss der genauigkeit halber hinzugefügt werden. ja, dieser august war ein für das gebiet, auf dem sich heute die bundesrepublik deutschland breitmacht, ein sehr regenreicher. aber schon vor beginn der genauen wetteraufzeichnungen gab es regen, viel regen, viel mehr regen als nach dem beginn der wetteraufzeichnungen.

als es noch keinen august, weil noch keine monate gab, sondern höchstens jahreszeiten, hat es aller wahrscheinlichkeit nach auch schon geregnet. wahrscheinlich war es auch schon mal wärmer als in diesem jahrtausend. überhaupt.

seit die menschheit (gibt es eine elefantheit oder eine ameisenheit, was ist eine menschheit?) mit zeitabschnitten durchschnitten wird (oder sich selbst durchschneidet), werden die messergebnisse immer spektakulärer. das liegt nicht nur an immer ausgefeilteren messtechniken, sondern auch den zur verfügung stehenden, mit messergebnissen bis obenhin gefüllten zeitabschnitten seit beginn der wetteraufzeichnungen.

aber wer legt denn fest, was eine wetteraufzeichnung ist und was nicht? spektakuläre, verschriftlichte beobachtungen sind auch aus weit entfernten zeiten überliefert. sie lassen sich als dokumente vergangener klimakatastrophen mit etwas abweichenden deutungen lesen.

heute, so scheint es, halten viele menschen das klima für menschengemacht. in einer denkart, die durchaus etwas mit nordamerikanischem pragmatismus (und nordemerika ist, wie informierte zeitgenossen wissen, nicht das reich des bösen, sondern die wiederkehr europas als farce, um mit marxens 18. brumaire zu sprechen) und einem naiven hang zur "machbarkeit" zu tun hat, schicken sich mehr oder weniger selbsternannte eliten an, das wetter zu ändern.

das erinnert mich an den witz mit den beiden regenwürmern. sagt der eine: lass und eine lpg gründen. das sind, vorsichtig formuliert, die dimensionen.

übrigens leben wir, erdgeschichtlich gesehen, in einer kaltzeit. das sei, aller klimatologischen hysterie zum trotz, gesagt.

| thomas wettengel © 2010-09-03 |

2010-08-29

LESEN UND LESEN LASSEN

"Der syndikalistische Generalstreik weist die stärksten Verwandtschaften mit dem ersteren System des Krieges auf: das Proletariat organisiert sich für die Schlacht, indem es sich von den anderen Teilen der Nation klar absondert, indem es sich als die große Triebkraft der Geschichte ansieht und jegliche soziale Rücksicht der Rücksicht auf den Kampf unterordnet; es hegt das sehr deutliche Gefühl des Ruhmes, der sich an seine geschichtliche Rolle heften soll, und des Heldentums seiner Kampfeshaltung; es sehnt sich nach der entscheidenden Probe, in der es das volle Maß seines Wertes erweisen wird. Da es keineswegs auf Eroberungen ausgeht, hat es keineswegs Pläne zu entwerfen, wie es seine Siege ausnützen könne: es will die Kapitalisten aus dem Produktionsgebiet vertreiben und nachher seinen Platz in der durch den Kapitalismus geschaffenen Werkstätte wieder einnehmen.
Dieser Generalstreik gibt seine Gleichgültigkeit gegen die materiellen Vorteile der Eroberung in sehr klarer Weise dadurch zu erkennen, dass er als seinen festen Vorsatz die Abschaffung des Staates hinstellt; der Staat ist aber in der Tat der Organisator des Eroberungskrieges, der Verteiler seiner Früchte und der Erhalter der Herrengruppen gewesen, die von allen den Unternehmungen Gewinn ziehen, deren Lasten die Gesamtheit der Gesellschaft trägt"
(Georges Sorel: Über die Gewalt, übers. v. Ludwig Oppenheimer [1928], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, 197)

2010-08-19

SCHLAFEN UND SCHLAFEN LASSEN

Ein chinesischer Rentner hat ein erdbebensicheres Bett entwickelt und dafür ein Patent erhalten. Das von Wang Wenxi entwickelte Lager ist mit Einbauschränken versehen, die Wasser, Konserven, ein Megaphon und einen Hammer enthalten, wie die 'China Daily' berichtet. Außerdem gebe es ein äußerst belastbares Brett, das im Falle schwerer Erschütterungen automatisch über die Liegefläche gleite. Im Falle eines schweren Erdbebens könne ein Mensch in diesem Bett mehrere Tage überleben. AFP

2010-08-18

LESEN UND LESEN LASSEN

Sven Regener: Der kleine Bruder. Roman

Wer schon immer mal wissen wollte, wie sich seine westdeutschen Freunde gefühlt haben, als sie nach Westberlin, Haupt- und Frontstadt der freien Welt, kamen, der lese Sven Regeners Buch.

Wer schon immer mal wissen wollte, wie es im Inneren der viel beschriebenen und beredeten Künstlerszene Westberlins inklusive gefälschter Hausbesetzungen und entgleisender Low-Level-Musikveranstaltungen aussah und roch und sich anfühlte, der lese Sven Regeners Buch.

Wer schon immer mal wissen wollte, welchen Namen er nun seiner Band (ganz bestimmt nicht) verpassen will oder wie er sich in Zukunft nennen möchte, der lese Sven Regeners Buch.

Wer aus Bremen kommt und nach Berlin fährt, der lese Sven Regeners Buch.

Wer genug davon hat, "der kleine Bruder" von wem auch immer zu sein und erwachsen genug ist, sich damit auseinander zu setzen (wird wirklich so geschrieben neuerdings), der lese Sven Regeners Buch.

Wer den Buchstaben 'e' mag, der lese Sven Regeners Buch.

Wer sich nicht für M. Proust und T. Mann und Konsorten interessiert (völlig zu Recht übrigens, wer leidet schon gern an Verstopfung), der lese Sven Regeners Buch.

Wer Sven Regeners Bücher "Herr Lehmann" und "Neue Vahr Süd" gelesen hat und an den literarischen Zwang zur Dreifaltigkeit und an den Dreiklang der Berliner Stadtbahn glaubt, der lese Sven Regeners Buch.

Wer das alles nicht will, der lässt es sich eben vorlesen. Bei Goldmann gibt es die gut 300 Seiten für 10 Euronen. Ansonsten: Fragt Eure Freunde.

2010-07-01

KONTAKTBÖRSEN

statistisch gesehen, ist die wahrscheinlichkeit, allein zu leben, in deutschland sehr gross. glücklicherweise gibt es menschen, die sich dieses problems nicht nur bewusst sind, sondern es tatkräftig angehen.

singlebörsen gibt es viele.

seitensprungagenturen finde ich merkwürdig. ich fände das viel zu kompliziert. neulich habe ich mich mit meiner freundin, die ich in einer singlebörse im netz kennen lernte, übers fremdgehen unterhalten.

SIE: "manch einer hat ja noch was nebenher zu laufen."
ICH: "das wäre mir viel zu kompliziert."
SIE: "das hoffe ich."

leute, die andere im alter "von 18 bis 100" suchen, kann man getrost vergessen. sie wissen nicht, was sie wollen. wie sagte andreas möller: "ob mailand oder madrid, ist mir egal, hauptsache italien."

fernbeziehungen sind eben kompliziert. aber schön.


| thomas wettengel © 2010-07-01 |

2010-06-23

HANDGEPÄCK 2

abweichende regelungen / in einigen ausnahmefällen
werden wir auch unsere gäste der first und
business class bitten ihr zweites handgepäckstück
aufzugeben / bei flügen mit kleinem fluggerät /
lufthansa regional partner / in ländern mit
restriktiven regierungsvorschriften / z b

grossbritannien italien und usa / aufgrund des
begrenzten stauraums an bord bieten wir ihnen auf
fast allen flügen mit lufthansa regional die
möglichkeit an ihr handgepäck direkt bis zum
einsteigen zu behalten und erst vor betreten
des flugzeugs abzugeben / auch beim aussteigen

können sie ihr gepäck direkt wieder in empfang
nehmen / hierfür stehen gepäckwagen an der
flugzeigtreppe bereit / bei flügen die von
einem unserer kooperationspartner durchgeführt
werden gelten die vorschriften des jeweiligen
partners / handgepäck bestimmungen / auf

flügen die in der eu starten sowie auf
anschlussflügen ab europa dürfen flüssigkeiten
nur eingeschränkt mit in die flugzeugkabine
genommen werden / dazu gehören auch alle
innerdeutschen flüge / bitte beachten sie
dass sich immer mehr länder diesen

handgepäckbestimmungen anschliessen /
flüssige und gelartige produkte wie z b
pflege und kosmetikartikel sind im
handgepäck gestattet sofern sie den folgenden
bestimmungen entsprechen / behältnisse mit
flüssigkeiten und ähnlichen produkten dürfen

bis zu einhundert ml fassen / es gilt die
aufgedruckte höchstfüllmenge / alle einzelnen
behältnisse müssen vollständig in einem
transparenten wieder verschliessbaren
plastikbeutel / z b sogenannte zipper / mit
max einem liter fassungsvermögen transportiert

werden / je ein beutel pro person / der
beutel muss bei der sicherheitskontrolle
separat vorgezeigt werden / medikamente und
spezialnahrung / z b babynahrung / die
während des fluges an bord benötigt werden
können ausserhalb des plastikbeutels

transportiert werden / artikel und beutel
die den massangaben nicht entsprechen dürfen
nicht mit an bord genommen werden / eine
ähnliche regelung gilt auf flügen und
umsteigeverbindungen in die usa / duty free
artikel die an flughäfen in der eu oder

an bord von in der eu registrierten
flugzeugen z b auf einem lufthansa flug
erworben wurden dürfen in einer versiegelten
tüte mitgeführt werden sofern ein kaufbeleg
vom selben tag vorliegt / gilt nicht für
codeshare flüge / die versiegelung der

artikel wird von der verkaufsstelle
vorgenommen / fluggäste die spirituosen
parfum oder andere flüssigkeiten in us
duty free shops erworben haben und auf
europäischen flughäfen umsteigen und in
andere eu länder weiterfliegen mussten

ihre einkaufstüten bislang abgeben / die
eu hat diese bestimmung gelockert / die
lockerung gilt neben singapur süd korea
und kroatien neuerdings auch für reisende
aus den usa und kanada die künftig ihre
einkaufstüten behalten können /

voraussetzung für die mitnahme ist allerdings
dass die duty free artikel wie vorgeschrieben
in einer durchsichtigen klarsichttüte
verschweisst sind und dass ein weiterflug
innerhalb der eu stattfindet / von
zweitausenddreizehn an sollen passagiere

in der eu generell wieder flüssigkeiten
mitnehmen dürfen / das flüssigkeitsverbot für
handgepäck war zweitausendsechs erlassen
worden nachdem es mehrere versuche gegeben
hatte flüssigsprengstoff in flugzeugen zu
zünden / bitte informieren sie sich daher

vor ihrer flugreise auf der webseite des
entsprechenden flughafens welche
bestimmungen an ihrem abflughafen gelten /
für die mitnahme von flüssigen bzw
gelartigen duty free artikeln im handgepäck
gelten ebenfalls spezielle bestimmungen

abhängig vom reiseziel / bitte erfragen
sie diese vor ort an der verkaufsstelle /
wir haben keinen einfluss auf diese
gesetzlichen auflagen und bitten unsere
fluggäste diese bereits bei der reiseplanung
zu berücksichtigen und das handgepäck

auf das nötigste zu reduzieren / da sich
diese sonderregelungen kurzfristig ändern
können informieren sie sich bitte noch
einmal unmittelbar vor ihrem abflug über
die aktuellen bestimmungen / handgepäck
auf grossbritannien flügen


thomas wettengel © 2010-06-23 |

2010-06-21

HANDGEPÄCK 1

lufthansa / zahl der handgepäckstücke /
in der first und business class können sie
zwei handgepäckstücke und deren inhalt mit
an bord nehmen / dies gilt nicht für abflüge
ab grossbritannien / eines davon schieben sie
bitte unter ihren vordersitz / in der

economy class ist ein handgepäckstück
zulässig / bitte beachten sie eventuelle
länderspezifische abweichungen / grösse
und schwere der handgepäckstücke / ein
handgepäckstück darf nicht grösser als
fünfundfünfzig mal vierzig mal zwanzig

zentimeter und nicht schwerer als acht
kilogramm sein / hiervon ausgenommen sind
faltbare kleidersäcke / sie gelten bis zu
einer grösse von siebenundfünfzig mal
vierundfünfzig mal fünfzehn zentimeter als
handgepäck / gepäckstücke die diese

grenzen üebrschreiten befördern wir im
frachtraum da der stauraum an bord
begrenzt ist / dies dient nicht nur ihrer
eigenen sicherheit und der ihrer
mitreisenden sondern auch ihrer
bequemlichkeit


| thomas wettengel © 2010-06-21 |

2010-06-17

TAGE DER WUT

was ist mit der jahreszeit anzufangen?

"der aufstand beginnt als spaziergang. gegen die verkehrsordnung während der arbeitszeit." so heiner müller 1977 in seiner HAMLETMASCHINE, die u.a. die bisher unvermeidliche dramaturgie von volksaufständen skizziert. ein volksaufstand ist eine gescheiterte revolution. wie alles begann, ist nicht in 3 sätzen zu sagen. so viel ist sicher. lohnsenkungen bei erhöhung der geforderten normen spielten eine wichtige, viele meinen, die wichtigste rolle. die unterdrückten gingen auf die strasse, um ihre wut zu zeigen, um ihre verhältnisse zu ändern. es wurden auch behältnisse angezündet. wahrscheinlich nicht von bauarbeitern. wo ist die wut heute? in den zimmern. menschen auf der strasse gibt es nur noch als phrase. der sommer findet vorm balkon statt, das heisst: auf dem balkon.

der sommer ist eine gute zeit für aufstände und revolutionen.


| thomas wettengel © 2010-06-17 |

2010-06-13

STUNDEN DER WUT

die grosse demonstration in berlin fand unter meiner regen teilnahme statt. ich bemühte mich, nicht neben der ddr-fahne her zu laufen. das gelang mir gut. ich versuchte die beste musik zu finden, um die stunden im nieselregen entspannt zu geniessen. leider gab es nur mittelmässige musik. das wetter war miserabel. das machte mich wütend. ich war am rande beteiligt, denn ich lief ja mit. die meisten sprechchöre krankten an mangelndem rhythmusgefühl. versmass schien den meisten rufern in der politischen wüste ein fremdwort zu sein, zumindest an diesem nachmittag. was solls, mögen sie gedacht haben, schliesslich geht es um einen guten zweck. nein, wollte ich ihnen zurufen, auch die form fordert ihren tribut, mindestens von meinen ohren. ich litt wie ein tier, wie ein politisches tier. es ging nicht nur um einen guten zweck, sondern auch rund um den bezirk mitte, um das kulturelle zentrum der haupstadt. wer einkaufen gehen wollte, ging einkaufen, die agitatorischen belästigungen am alexa gelangen, soweit ich das beobachten konnte, kaum. dann und wann rannten behelmte polizisten, die eben noch neutral bis lustlos neben dem zug hergetrotteten, durch die gegend, um für ihr geld eine leistung abzuliefern. ein hoch auf die tagesschau. irgendwann stand ich in der torstrasse und es ging weder vor noch zurück. es regnete immer stärker, es kühlte ab, es zog mich zum heimischen fernseher. nigeria gegen argentinien, ein kracher, dachte ich. da hätte ich ruhig weiter im regen auf der torstrasse stehen können. hinterher ist man immer schlauer. wir waren zwanzigtausend.

| thomas wettengel © 2010-06-13 |

2010-06-11

WOCHEN DER WUT

was merkel & co angesetzt haben, war nicht nur brutal, sondern brutalstmöglich getimt. wochen der wut, wie beispielsweise von der partei "die linke" angekündigt, wird es wohl eher in den stadien und vor mehr oder weniger grossen leinwänden geben. jede bevölkerung wählt sich die regierung, die sie verdient.

| thomas wettengel © 2010-06-11 |

2010-05-22

LITERATUR

Postsonett


Ich stehe in der Post in einer Schlange
Und schwitze wie ein Schwein und denk Hoffentlich
Merken die Leute nichts von meinem stinkenden
Pullover Ausziehn ist zu umständlich Bin
Ja sowieso gleich dran Da kann ich auch warten
Doch andrerseits ist es die Hölle Die wievielte
Bewerbung ist das in meiner Hand Die Wut
Auf die grinsende Postangestellte wächst
Ins Bodenlose Was macht die Ziege da Sie
Beschwatzt den alten Brabbler Jetzt hat sies
Gemerkt Und nun beraten sich die falschen
Schwestern hinter der Theke Ich dreh mich um
Und höre den alten Mann leise fluchen
Endlich bin ich dran Und nichts wie raus




| thomas wettengel © 2010-05-21 |

2010-05-10

5 TAGE, 5 MELDUNGEN

06.05.2010: horst köhler eröffnet in berlin das dokumentationszentrum "topographie des terrors". endlich. man kann sich die bundespräsidenten nicht aussuchen. zur not tuts auch ein sparkassendirektor.

07.05.2010: die staatsanwaltschaft leitet ermittlungen gegen bischof mixa ein. einer der freundlichen twitter-kommentare lautete dahingehed, dass zum 'hand-mixa' nun der 'stab-mixa' dazugekommen sei. der hirtenstab ist vor lauter dreck am selbigen kaum noch zu erkennnen. und die schäfchen werden immer renitenter. und abwesender.

08.05.2010: tag der befreiung. schaft zwei, drei, viele feiertage. ein feiertag ist ein freier tag. um zwölf uhr mittags beträgt die temperatur am flughafen tegel 11,8 grad celsius, es ist bewölkt.

09.05.2010: tag des sieges. woanders. kommt davon, wenn man verliert. um neun uhr vormittags beträgt die temperatur am flughafen tegel, nach regen, 10,1 grad celsius. grosses tamtam in moskau, die dickliche frau merkel neben dem fischigen herrn putin auf der ehrentribüne. im treptower park in berlin tummelt sich das halbe russische berlin. es wird fotografiert, posiert, flaniert, gegessen, getrunken, gesungen, gefeiert. davon wird also ein weltreich zusammengehalten, auch wenn es gar nicht mehr existiert. da wird jedes goethe-institut neidisch. bevor die russischen frauenchöre einsetzen, tauchen meine eltern aus der menge auf, mein vater mit fsb-artiger sonnenbrille, und beglückwünschen mich zum 9. mai. dagegen kann ich nichts einwenden, denn erstens stimmt das datum, und zweitens wandern wir zum zenner und später zurück nach lichtenberg.

10.05.2010: das 'forum waschen' begeht heute den bundesweiten "tag des (ab)waschens". innerlich habe ich ihn auch begangen, irgendwie. abgewaschen habe ich gestern. heute bewerbe ich mich. ich staple tief und bin nicht dynamisch. mein gegenüber gibt mir hinweise für bessere bewerbungsgespräche. ich telefoniere mit einer freundin, fahre mit tram und metro nach hause und lese jewtuschenkos "beerenreiche gegenden". ich lache. ich bereite mich auf die morgige bewerbung vor. nach der bewerbung ist vor der bewerbung. ich schaue den dritten teil von oserows kriegsschinken "befreiung", anschliessend "anonyma" und last but not least "die abenteuer des werner holt". um 23 uhr 20 beträgt die temperatur am flughafen tegel 10 grad celsius, es ist immer noch oder schon wieder bewölkt und für die jahreszeit zu kühl.

| thomas wettengel © 2010-05-10 |

2010-05-06

KOMM SCHENK MIR EIN

was ist nur in die griechen gefahren? ist ihnen langweilig geworden nach 2500 jahren sklavenhalterdemokratie? nach 2500 jahren marathon? mir sagte letztens ein altphilologe, der mann von marathon hätte nach seinem selbstmörderischen lauf den berühmten satz gar nicht mehr in hochgriechischer sprache sagen können, sondern nur im dorischen dialekt, weil der einfacher ist. wahrscheinlich hat er recht. stumpf ist trumpf, würde der grosse philosoph dendemannitos sagen.

was ist nur in die griechen gefahren? vielleicht ist es der frühling. vielleicht vermissen sie ihre jährlichen waldbrände und wollen zur abwechslung einmal stadtbrände haben. wer weiss, wer weiss. der dramatiker heiner müller sprach irgendwo einmal vom "terror der akropolis", dem bis heute die welt unterworfen wird und der bis heute der kleinste gemeinsame nenner aller so genannten westlichen demokratien ist.

was ist nur in die griechen gefahren? sind sie zu sich selbst gekommen, wollen sie den terror der akropolis lieber direkt vor der akropolis austragen anstatt in irgendwelchen fernen ländern, auf entfernten kontinenten? aber wer sind 'die griechen'?

was ist nur in die griechen gefahren? ist es wirklich die angst vor dem verlust der privilegien, die sich die guten griechen selbst in gestalt des angeblich sozialistischen präsidenten gewählt haben? wo die fritzen vor jeder urkunde, jedem kassenbeleg und jeder akte einknicken, sagen sich griechen eben: scheiss drauf, mein taxi fährt nicht mit papier, sondern mit benzin.

was ist nur in die griechen gefahren? ist es eine alte kriegslist, die sie anwenden? immerhin sind sie länger dabei als diese barbarischen germanen, die sich ohnehin nicht einmal selbst erfunden haben, sondern, bei all ihrem angeblichen selbstverständnis, das abziehbild eines römischen schriftstellers sind. ist das die fortsetzung des partisanenkrieges mit anderen mitteln. sie kriegen ihr geld schon, so oder so. was, ihr wollt keine entschädigung für die verbrechen der faschisten deutschen okkupanten zahlen? das werden wir ja sehen!

| thomas wettengel © 2010-05-06 |

2010-04-30

WOCHENENDE

das wetter sagt: ich bin der frühling.

die kapuze sagt: hasch mich.

der kaputte sagt: ganz oder gar nicht.

der vietnamese sagt: ich feiere heute auch oder auch nicht. fünfunddreissig jahre sind kein pappenstiel.

der autobesitzer sagt: ich bin dann mal weg.

der polizist sagt: ich geh mich mal umziehen.

das telefon sagt: nichts.

der hund sagt: wuff. und vielleicht noch: wuff.


| thomas wettengel © 2010-04-30 |

2010-04-26

ARBEIT MACHT ARBEIT 2

arbeit macht auch nach 10 stunden arbeit noch arbeit, auch wenn es sich um korrekturarbeiten handelt. wer selbst schon eine abschlussarbeit geschrieben hat, wird wissen, was es heisst, eine woche lang 14 stunden täglich zu arbeiten. wenn einem am letzten tag jemand als helfendes auge und nützliche hand zuarbeitet, motiviert, dann wird die arbeit nicht weniger, aber sie wird eine andere.

arbeit, wenn sie ganze tage andauert, ist eine lebenszeit. auch unbezahlte arbeit ist lebenszeit, keine frage. in diese lebenszeit passen auch gut gewürzter kartoffelsalat und raucherpausen gut hinein. natürlich wird viel gelacht, und zwischen den pausen das pensum heruntergeschrubbt.

anderes als die arbeit kommt zur sprache, versteckt gehaltene einfälle, alte und neue witze, dergleichen mehr. das alles macht sehnsucht nach arbeit, die etwas anderes ist als pausenlose plackerei.

und wäre ich auch arbeitslos, ich wäre nie die arbeit los. freilich bin ich arbeitslos, doch bin ich nicht die arbeit los. die offizielle, offiziöse arbeitslosigkeit meint ja die abhängige erwerbsarbeit. abhängige kartoffelsalatsarbeit ist damit nicht gemeint. irgendeinem amtsgehirn ist einst dieser begriff entfallen: arbeitslosigkeit. anders kann es nicht gewesen sein.

und doch hat dieser begriff mehr spielraum, als es auf den ersten blick scheint. es gibt auch lose arbeit, im unterschied zu fester, das ist der gedanke, der sich nach einigem starren aufs wort einstellt, wenn die buchstaben verschwimmen und die weltbilder baden gehen.

lose arbeit, gewinne kartoffelsalat, rette leben!

| thomas wettengel © 2010-04-26 |

2010-04-11

JEDER FREUND IST ANDERS

dem ist nicht viel hinzuzufügen. kein freund fügt sich in ein festes schema. es scheint mir, dass jeder meiner freunde auf eigene, eigentümliche weise sein vom wem auch immer aufgetragenes leben abträgt, gräbt nach dem, was da ist oder nicht ist.

ich bin immer wieder erstaunt über kleine verhaltensweisen, die ich gern übernehme und die mich zu einer mischung, einem amalgam meiner freunde machen.

freunde sind mir die wichtigste schule des lebens geworden.

sie stellen mich vor immer neue rätsel, die sie mit immer neuen verzierungen ausschmücken.

meine freunde sind mehr als alles in allem. mathematik war nie meine stärke. schach, was ich seit einiger zeit häufiger spiele, auch nicht.

die umständliche formulierung der wahlverwandtschaften, die goethe aus der chemie seiner zeit entlehnte, trifft es nur von ungefähr, und sie trifft ungefähr vorbei, denn die geheimnisse von freundschaften sind nicht zu treffen. jeder meiner freunde, was heisst hier "meine", verfolgt unterschiedliche, feste und bewegliche ziele.

ich mache freunden gern geschenke, die mal freilwillig, mal unfreiwillig rätselhaft sind. ich versuche sie mit skurrilen gesten.

eltern sind die schwierigsten freunde. dieser satz beschreibt einen idealfall, also ein unding.

ohne meine freunde wäre ich nichts als eine traurige figur bei romero.


| thomas wettengel © 2010-04-11 |

2010-04-07

AUS.GEBILDET

Wer wissen will, warum er/sie falsch studiert hat, der lese Ralf Klausnitzers Artikel im FREITAG. Wer wissen will, warum ein Geisteswissenschaftler keine große Lesergemeinde findet, ebenso. Wie sollen Wissenschaftler entscheiden,

ob Tagungsthemen wie 'Literatur und Nichtwissen' oder 'Die Diziplinierung der Wahrnehmung in Mediengesellschaften von der Antike bis in die Gegenwart' tatsächlich einer längerfristig entwickelten Problemstellung entstammen oder lediglich auf den durchfahrenden Zug konjunktureller Aufmerksamkeitssteigerung aufspringen? Und wie lässt sich angesichts eines immer rascheren Wechsels von spannenden Gegenständen und ihrer binnen einer Konferenz vollzogenen Bearbeitung so etwas wie Kontinuität und Regelbewusstsein herstellen, das für Bildung als dem wichtigsten Gut einer Gesellschaft einfach unerlässlich ist und das vor allem die Investition von Zeit und Aufmerksamkeit verlangt?

Wer in den Genuss eines Grundkurses bei Ralf Klausnitzer gekommen ist, weiß, wovon die Rede ist, wenn 'Regelbewusstsein' und 'Investition von Zeit und Aufmerksamkeit' angesprochen werden. Eine Seminararbeit, mit der ich schon sehr zufrieden war, gab Ralf Klausnitzer mir zurück mit dem Hinweis, hier und dort noch einmal genau nachzusehen. 'Eine 1,0 würde ich mir selbst auch nicht geben.' (O-Ton Klausnitzer) Wer bei Ralf Klausnitzer studiert (hat), hat am eigenen Leib erfahren, was zeitliche Investitionen sind.

Ralf Klausnitzer beschreibt die 'Kampfzone', in der sich die Protagonisten des Wissenschaftsbetriebs permanent zu positionieren haben. Sarkastisch positioniert sich auch Klausnitzer - indem er das Konzept 'Kampfzone' inklusive Tagungskultur und innovativ klingender Themenfelder als unvereinbar mit dem Konzept 'Wissen' darstellt.

Jede nachfolgende Generation muss die Chance haben, den Reflexionsstand ihrer Vorgänger zu erreichen. Was aber geschieht, wenn dieser Reflexionsstand durch das Spiel der gegenseitigen Überbietung und ständigen Erweiterung nicht mehr zu erkennen ist? Woran sollen sich Studierende halten, wenn sich ihre akademischen Lehrer als gut dotierte Fellows in Forschungszentren flüchten, um (entbunden von ihren Lehrverpflichtungen) den nächsten erkenntnistheoretischen 'turn' vorzubereiten?

Das WIE, WAS, WOHER, WOHIN und WARUM des Wissens erfordere eine 'Kultur der Aufmerksamkeit', die eben nicht durch 'riskantes Denken von Individuen' (Gumbrecht) zu leisten sei. Die Lehrveranstaltung seien die wirklich wichtigen 'Spielwiesen', auf denen - so Klausnitzers konservative Formulierung - 'Neue Ideen' gemeinsam mit den Studierenden, den zukünftigen Lehrenden, den nachgeborenen Lernenden, zu testen sind.

Ralf Klausnitzers Artikel ist ein Plädoyer für eine Generationengerechtigkeit, ja für einen Generationenvertrag, den eine selbst ernannte 'Wissensgesellschaft' bei Strafe ihres Untergangs auszuhandeln hat.

Ich selbst entschied mich, während ich noch an meiner Magisterarbeit schrieb, schon gegen eine wissenschaftliche Karriere, nicht zuletzt angesichts der ebenso hartnäckig wie eilfertig betriebenen Netzwerkerei meiner Kommilitonen. Ich befürchtete Lachattacken an den unpassendsten Stellen. Mir fehlte wohl der Ernst.

Cassirer wusste, dass Geschichte etwas ist, was wir uns erarbeiten müssen.

| thomas wettengel © 2010-04-07 |

2010-03-23

UNENTSCHIEDEN

ein fussballspiel kann unentschieden ausgehen, muss es aber nicht.

ein streit um stalinbilder in moskau kann ein zeichen von unentschiedenheit sein. man ist sich in russland nicht sicher, wie stalins leistung respektive fehlleistung in die selbstbilder des neuen russland, das sich jüngst gern auf das ganz alte beruft, passt.

in der hartz-4-freien zeitschrift die zeit zeigt sich katharina schuler unentschieden darüber, ob man auf hartz-4-bezieher vielleicht ein bisschen mehr druck ausüben sollte, nach dem motto "drucken und drücken", um deren vermittelbarkeit zu steigern. diese strategie ist ja aus der tierhaltung bekannt: quäle das schwein, und es wird schmackhaft sein. aber ganz sicher ist man sich in der zeitschrift die zeit nicht, denn das gehört zum anständigen diskurs.

in australien ist die entscheidung, ob der/die/das mensch norrie may-welby mann oder frau ist, richtig: unentschieden ausgegangen. in einem anfall von spontaneität hat sich die australische bürokratie entschieden, eine rubrik "sex not specified" einzuführen, und zwar in sich selbst.

unentschieden schreitet die welt voran.


| thomas wettengel © 2010-03-23 |

2010-03-14

SCHLOTTERDEICH

SCHLOTTERDEICH [FRAGMENT]


er war hintergangen worden. sie hatten ihn hereingelegt. aber wer. fest stand, dass er sich seit geraumer zeit auf unbekanntem terrain fortbewegte.

ich bin der einzige, der noch am leben ist, dachte er. alle anderen teilnehmer sind längst vom schlotterdeich gefallen, tot, verstorben. oder war er es, der im begriff war, sich zu versterben. vielleicht waren ja die anderen richtig gestorben, und er wusste nur nicht, wie es anfangen, oder vielmehr beenden, sich. sein ist anwesen, sterben ist verwesen, mehr gab sein gehirn nicht her. immerhin, ein trost, die philosophie hatte ihn noch nicht verlassen.

der tod ist ein irrtum
, befand er. möglicherweise war das der tiefere sinn des wortes verstorben. oder war sein tod, wie jeder andere, nur das ergebnis eines fehlerhaften programms, oder fand er gar nicht statt. was wäre schlimmer. er wusste keine antwort, vorläufig. er blieb sie schuldig, wem, wusste er auch nicht. er beschritt den schmalen schlotterdeich weiter in richtung der nächsten biegung, den sumpf zur linken und den wald zur rechten.

und wenn er nun die ganze zeit im kreis liefe. hier lief ohnehin einiges schief, warum nicht auch das. in filmen mag das ganz lustig sein, aber endlosschleifen in echtzeit waren etwas anderes. schon der gedanke daran löste ein frösteln aus. der gedanke, sich in einer endlosschleife zu bewegen, war eines der produkte von leuten, die an den eismaschinen drehen. wenn der eismann zwei mal klingelt, aber das blieb fragment.

die sonne stand hoch am himmel, oder niedrig, je nachdem. ein alter hut, leider nur ein gedachter. musst er eben leiden. so ein vietnamesischer strohhut wäre jetzt gut. er war schlecht ausgerüstet worden. das war sicher. kein wasser, kein sonnenschutz, keine waffen, keine orientierungshilfen, kein pfadfinderwissen. im elend ist man überall im ausland. und kein thermometer, aber das schien ihm gut zu sein. die gefühlte temperatur war schon höllenhaft, die gewusste hätte ihm den rest gegeben.

defizite machten sich bemerkbar. er wurde immer weniger, die landschaft immer mehr. ich habe schon verstanden, brüllte es in seinen eingeweiden, du hast gewonnen. die gegenseite schien das nicht zu interessieren, sie zeigte sich nicht einmal. vielleicht war er die gegenseite, eine gegenseite ohne gegner, die leerläuft. das wäre zumindest eine plausible erklärung für mein sinnloses vorwärtstappen. aber das gebiet musste regenreich sein, denn der damm war feucht, und er machte seinem namen ehre. was heisst hier ehre. da steht jemand am ende, jemand, der wusste, wo das ende war, und schlug wellen, wie mit einem teppich.

der deich, so nannte er ihn, hatte ähnlichkeit mit einem bahndamm, und hier und da ragte etwas aus dem boden, was mit gutem willen als zivilisationsrest zu identifizieren war. mal eine bohle, mal reste eines waggons, fahrgestelle. die reste befanden sich auf der waldseite, der sumpf hatte alles verschlungen, was heruntergefallen und vom rechten weg abgekommen war. die hände in die hüften gestützt, blickte er zur sumpfseite, die bis zum horizont gleichförmig blieb. sumpf, so weit das auge reichte. wenn ich mich hinsetze, werde ich todsicher abrutschen und versinken, und hier draussen hört und sieht mich niemand. also, dachte er, ist es sicherer, auf beiden beinen stehen zu bleiben. mit beiden beinen im leben stehen. redensarten griffen um sich, auf sein gehirn zu und hinein ins nicht mehr so pralle menschenleben, ein zeichen des zunehmenden verfalls. vielleicht war der schlotterdeich selbst, nein. jetzt ein zaghaftes oder deutliches hallo zu rufen, schien ihm nicht geraten. hier deutete nichts auf gleichzeitiges menschliches leben. er war ganz offensichtlich zu spät dran, und würde vom leben bestraft werden. das bewusstsein ist eben immer hinterher, ja, wenn man nicht immer hinterher wäre, gäbe es gar keine ziele mehr.

dehnungsübungen, überprüfen der gelenkfunktionen, alles im stehen. das war doch ein schlechter witz auf den langen marsch, ein eintöniges vorwärtsbrüten, im gleichschritt mit der hoffnung, die zuletzt stirbt. warum eigentlich. da hatte ihn jemand falsch programmiert, und doch wieder richtig, denn verzweiflung und hoffnung, angst und hoffnung, hunger und hoffnung, geilheit und hoffnung, alles kreiste um die hoffnung, wie er um diesen wald, oder um den sumpf, die er beide unmöglich umrunden konnte. wenigstens nicht zugleich. a und nicht a feierten verbrüderung, als logischer hockstrecksprung in die paradoxie. was sagt die zeit, mir sagt sie nichts, die uhr haben sie mir auch abgenommen, es war zum verzweifeln. die gelenke funktionierten tadellos, bis auf ein bekanntes leichtes knacken im linken knie.

irgendwann müsste es auch dunkel werden. dieser todesmarsch konnte ja nicht ewig so weitergehen. das wort todesmarsch, einmal gedacht, frass sich nun durch sein gehirn, unaufhaltsam.




| thomas wettengel © 2010-03-10 |

2010-03-08

DAS GROSSMAEHRISCHE REICH

mein bewerbungsschreiben ist noch nicht aufgesetzt, denn ich ueberlege noch. ueberlegenheit zeit sich in der ueberlegung. bevor die ueberlegenheit kommt, muss die ueberlegung erfolgt sein. es ist eine strategische frage, eine frage von groesster bedeutung.

das grossmaehrische reich sucht, wie ich aus sicherer quelle erfahren habe, minister. einige posten sind schon besetzt. meine sichere quelle ist der reichskanzler des grossmaehrischen reiches. dieser posten ist also schon vergeben, ebenso der des innenministers, den der reichskanzler bis auf weiteres uebernimmt.

ich werde mich also als aussenminister bewerben. dem posten des aussenministers kommt eine grosse bedeutung zu, vor allem dann, wenn es sich nicht um ein kleines oder mittleres, sondern um ein grosses reich wie das grossmaehrische handelt. doch der posten bietet noch weitere vorteile.

aufgrund seiner ausdehnung benoetigt das grossmaehrische reich aller wahrscheinlichkeit nach zwei hauptstaedte, eine winter- und eine sommerresidenz. ich persoenlich bin gegenwaertig mit unaufschiebbaeren angelegenheiten beschaeftigt, so dass ich mich nur um eine halbtagsstellte bewerben werde, wahrscheinlich fuer den sommer. der reichskanzler des grossmaehrischen reiches hat mir zugesichert, dass er halbtagsstellen bevorzugt. er ist ein sehr progressiver reichskanzler.

der posten des aussenministers des grossmaehrischen reiches, eine halbtagsstelle von mai bis oktober, entspricht meinen vorstellungen einer vernuenftigen arbeitsstelle, die die aufgaben der repraesentation mit denen der rekreation auf das beste verbindet.

nun, eine bewerbung mehr schadet nicht, ganz im gegenteil, sie schult, und das ungemein. das grossmaehrische reich geht herrlichen zeiten entgegen, und ich kann sagen, dass ich versucht habe schritt zu halten.

| thomas wettengel © 2010-03-08 |

2010-02-21

SPUREN



Oft glaubte ich ein Pfeifen zu hören, woher es kam wusste ich nicht zu sagen, das Pfeifen war jedenfalls in meinem Kopf. Jemand war auf mich als Hund gekommen, und ich hechelte und suchte nach meinem Herrchen, stellte die Lauscher auf, und das Pfeifen wurde zum Summen, das Summen zum Dröhnen in meinem Kopf. Ich konnte die Antwort nicht geben, dem Befehl nicht Folge leisten, oder hatte sich jemand verpfiffen, oder mich. Ich hatte ja gehört, verdammt noch mal.
Das Schwindelgefühl war so stark, dass ich mich an einem der Regale festhalten musste, um nicht hinzustürzen. Mir wurde schwarz vor Augen, die Welt summte wie ein Bienenschwarm. Nach einigen Momenten, in denen ich nicht wusste, ob ich mich auf den Beinen halten oder lang hinschlagen würde, kam ich wieder zu Bewusstsein. Was blieb, war ein Ohrensausen und das Gefühl äußerster Verwundbarkeit, das mich von allen anderen unterschied. Als Jugendlicher war ich in einem Ferienlager ohnmächtig geworden, nachdem ich den Tag über nichts gegessen und nur wenig getrunken hatte. Es war Sommer. Ich war im Flur eines Hauses zusammengebrochen, halb auf der Schwelle zu einem Raum. Wie lange ich ohne Bewusstsein war, weiß ich bis heute nicht. Die ausgelöschten Augenblicke erschienen mir immer sehr rätselhaft. In der Tschechoslowakei, die damals noch existierte und wo das bewusste Ferienlager stattfand in dem ich zusammenbrach, hatte die Familie meines Großvaters mütterlicherseits gelebt, erst im Sudetenland, später in Prag. Dessen Vater, geboren in einer kleinen Industriestadt im Sudetenland und später Redakteur der Roten Fahne in Prag, war der Verhaftung durch die deutschen Besatzer mehrmals entgangen. Seine Spur verliert sich während des Krieges irgendwo in den polnischen Wäldern. Ob sein Leben vor den Gewehrläufen eines SS-Kommandos oder im Gulag endete, ist unbekannt.
Mir ist in gesundem Zustand nichts anzusehen, nur hin und wieder taumele ich, wie es die Betrunkenen tun, und presse dazu die Ohren mit den Händen, den festen Boden mit den Augen suchend. Ich stoße an Ecken, verliere das Gefühl für die Entfernung zum Türrahmen, hole mir blaue Flecken, kleine Schürfwunden. Ungeschicklichkeiten eben, die sich nicht schicken für einen, der geradeaus will. Ich spreche wenig, um nicht anzuecken, spreche hastig, verhasple mich, stolpere. Dann umstehen sie mich wieder, fragende Stirnen, schwankende Gestalten. Oft strecke ich wie blind eine Hand aus, um an Wänden und unter Türen mir meinen Weg zu ertasten. Gerate ich in einen solchen Zustand, wachsen die Wände und Decken nach Belieben, die ganze Geometrie des Raums verändert sich, schleudert mich hin und her, vor und zurück, eine Kollision zieht die nächste nach sich. Es kommt auch vor, dass ich, schreiend und fluchend und unzusammenhängende Worte redend, taumelnd über Straßen und Plätze und durch Fußgängerzonen laufe. Man kann nicht behaupten, dass ich verkehrsfähig wäre. Die Passanten machen einen Bogen um mich. Wenn ich vor Schmerzen fast besinnungslos werde, wenn sie alles ausfüllen und ich das Gefühl habe, dass mir der Kopf explodiert, schlage ich mich kräftig mit den Fäusten oder renne den Kopf gegen eine Wand, bis Blut kommt und ich erschöpft, fast glücklich, zu Boden sinke.
In diesem Lager hatte ich meine Ferien verbracht, wie in den Jahren zuvor. Es war ein Sommer in Lagern. Mir hatte das nichts ausgemacht, ich hatte mich an diesem Wort Lager nie besonders gestört, es war normal und gehörte gewissermaßen zur erweiterten Familie. Es hatte für mich etwas zu tun mit Lagerfeuer, damit, dass Menschen eben irgendwo lagern. Lager gab es ohnehin sehr viel in meinem Leben. In der Schule zum Beispiel. Da gab es Konzentrationslager, von denen erzählten die Lehrer. Dann wurden Schwarzweißfotos gezeigt, in den Lehrbüchern. Fotos aus meinem Lager waren meistens bunt. Das mussten also andere Lager sein. Hin und wieder brachte ich Medaillen aus den Lagern mit, gravierte Plastescheiben mit einem Loch und einem bunten Kunststoffband. Sie waren wie Gold-, Silber- und Bronzemedaillen gefärbt, aber man sah ihnen an, dass es keine echten Medaillen waren. Mich störte das nicht. Vieles in meinem Leben war aus Plaste, zum Beispiel das Auto, mit dem mich Vater und Mutter abwechselnd zur Schule fuhren. Sie nannten es den Laubfrosch. Es war grün, stank und war sehr laut. Mein Bruder besaß auch einen Laubfrosch. Er hieß Peter der Erste und sprang an einem Sonntag im August vom Balkon im achten Stock. Erst einen Staat später erfuhr ich von anderen Lagern. Sie sollten sich dort befunden haben, wo einer Redensart nach mein Lager war. Diesem Lager, auch wenn ich es nicht so nannte, hatte ich mich immer zugehörig geführt. Und nun sollte es dort Lager gegeben haben, fernab von aller Zivilisation, Lager am Rand des Polarkreises. Kurz bevor ich die Universität beendet hatte, las ich Berichte und Bekenntnisse von Menschen, die schrieben, wie schrecklich es in diesen Lagern gewesen sei und dass sie selbst dort gewesen wären. Wie zum Beweis schauten sie aus ihren Fotos anklagend und leidend. Ich hatte oft Heimweh gehabt, wenn ich im Ferienlager war, weit weg von meinen Eltern, umgeben von fremden Kindern, fremden Erwachsenen und einem Zaun. Es war, wie mir nun allerorts gesagt wurde, ein kleines Abbild des großen Lagers, in dem ich meine Kindheit hatte. Der Tee kam aus großen Kesseln und schmeckte anders als anderer Tee. Nie wieder hatte ich Tee getrunken mit diesem Geschmack. In meiner Erinnerung waren die Kessel groß und dunkelgrün, im unteren Teil war ein Hahn eingebaut, und wenn man am Hebel drehte, ergoss sich der Tee in eine Plastetasse von unbeschreiblicher Farbe. In ihren Büchern schrieben die Menschen mit den anklagenden Gesichtern, dass es dort, in ihren Lagern nicht nur Zäune und manchmal auch Tee, sondern auch bewaffnete Posten und anderes, kaum Sagbares gegeben habe. Vieles klang glaubwürdig, da auch Menschen, denen ich sonst vertraute, ausweichende Antworten gaben. Auch ihre Augen wichen mir aus, wenn ich sie suchte, oder starrten durch mich hindurch, als ob sie tot wären, oder ich. Manche stießen auch Laute der Abwehr hervor, die tief aus dem Inneren ihrer Körper kamen.
Ich hatte eine Theorie entwickelt, die erklärte, warum die Leute für gewöhnlich auf dem rechten Ohr besser hören als auf dem linken. Sie lief darauf hinaus, dass die meisten Väter Rechtshänder sind.
Der Staat, den ich durchlief, hatte aufgrund seiner Größe, er war kleiner als seine bessere Hälfte und auch im internationalen Vergleich, das Bedürfnis, diese kleinste Größe durch Arbeit zu vergrößern, Arbeit am Menschen, der auch hier im Mittelpunkt stand. So kam es, dass aus der Mitte der Bevölkerung, zu der auch ich gehörte, mit wachsender Regelmäßigkeit immer größere sportliche Erfolge in immer internationaleren Wettkämpfen errungen wurden. Ein neues Geschlecht von Titanen entstand. Auch hier wurde die Weisheit mit Löffeln zugeführt. Denn wer ein Geschlecht hat und welches und wo und wann es anfängt und aufhört, bestimmten die Turnlehrer.
Polypen werden abgeklemmt und abgesaugt, Zellstoff mit wunderbarer Salbe tief ins Ohr gestopft, wo der kleine Finger nicht mehr hinkommt, man wartet auf den Ausfluss des Wundmaterials. Ich denke jetzt immer öfter daran, mir alle Hörnerven durchtrennen zu lassen, damit es endlich aufhört.
Ein Lager ist ein Ruheplatz. Hier kommt man zur Ruhe, zur letzten oder vorletzten, und wie man sich bettet, so liegt man. Schön gelegen. Woher wusste ich, wann ich in einem Lager war, in welchem, ob drinnen oder draußen. Kaum im einen, war ich schon im andern, kaum draußen, schon drinnen. Das nächste Lager ist immer das schwerste. Und was die andern sagten, dass das Lager auf der andern Seite sei, konnte genauso gut ein Schwindel sein. Schwindel war die Drehung der Erde, ihr umläufiges Taumeln. Mein Sonnensystem war ein Lager am Rand einer unbedeutenden Galaxie, ein Endlager der Evolution. Es war nicht alles schlecht, nur mir.
Ich hörte wieder dieses pfeifende Geräusch, diese kosmische, nur mir bestimmte Hundepfeife. Ich wollte mich erheben, wollte gehorchen, aber welchem Befehl.


| thomas wettengel © 2009 |

2010-02-14

HILFE

ich helfe gern. das bekommen nicht nur freunde aus der welt 1.0 zu spüren, sondern auch die aus der welt 2.0.

1.0.1.
als studierter magister und ausgefuchster müllerianer werde ich gern bemüht, wenn es darum geht, doch mal zu helfen, "weil du dich doch mit diesen müller-sachen so gut auskennst". ich mache ein gesicht, das intelligenz und understatement ausdrücken soll. ich weiss nicht, ob es gelingt. jedenfalls führt es zu kostenlosem kaffee und leckerem auflauf. und es führt mich in bereiche, die ich noch nicht kenne. dort gelingt mir zwar die eine oder die andere intelligente bemerkung, aber mich beschleicht das gefühl, doch nicht so viel beitragen zu können, wie mein gegenüber erwartet. ich mache mein intelligentes gesicht oder das, was ich dafür halte. ich versehe arbeiten mit unzähligen anmerkungen und - wegen der motivation - smileys. meine anmerkungen sind aber selbst mit legende kaum zu entziffern. eine schrift, schön und unleserlich. dabei habe ich mir solche mühe gegeben. weil ich doch so gerne helfe. wenigstens konnte ich noch die eine oder andere format-katastrophe verhindern. andere werden sich auftun, nach murphys gesetz und der dirk-baecker-konstante.

2.0.1.
um zu helfen, schlittere ich durch halb berlin. vor zwei tagen habe ich an der theaterkapelle herumgehackt. sie ist nicht umgefallen, thesen zum anschlagen hatte ich auch keine dabei. zwei freikarten habe ich gewonnen, und alle, die mich bei der arbeit beobachteten, machten anerkennende kommentare. manche wollten sogar helfen. aber das mache ich lieber selbst.

1.0.2.
ich helfe auch am telefon. heute rief mich eine freundin verzweifelt an, weil sie seit einer woche an einer bewerbung laboriert wie an einem grippalen infekt. ich habe mir das bewerbungsschreiben vorlesen lassen und drei formulierungen für einen absatz gemailt, die allesamt nichts brachten ausser eine verifizierung der dirk-baecker-konstante, die besagt, dass jedes problem die lösung eines vorhergehenden problems ist. ich tue, was ich kann. am ende war die freundin immer noch verzeifelt, aber irgendwie anders. ich helfe gern.

| thomas wettengel (c) 2010-02-14 |

2010-02-07

ZWISCHEN DEN ZEILEN

kannst du noch in den spiegel sehn

kannst du den hut vor dem mut andrer leute ziehn

kannst du deinen papiertiger noch verantworten in diesem käfig

kannst du nein sagen ohne zu lügen

kannst du deinen posten noch verlassen


kannst du deine faust in den spiegel treiben

kannst du noch lachen über die menschen

kannst du in gedanken auf und ab gehen

kannst du dich noch zu einer anständigen lüge aufraffen

kannst du deinen posten behaupten


im angesicht der niederlage

was befällt dich furcht oder gelächter


hast du noch drei wünsche frei

hast du noch eine frage oder war es das




| thomas wettengel © 2004 |

2010-01-30

ARBEIT MACHT ARBEIT

Frigga Haug forderte auf ihrer Eröffnungsrede zum 3. Deutschen Sozialforum "Ein gutes Leben" und "Teilzeitarbeit für alle". Muss die Gesellschaft sich "um die Sonne der Arbeit drehen", um ihr Gleichgewicht zu finden (Marx)? Dass die kapitalistische Gesellschaft aus den Fugen ist, scheint ihr klar. Gibt es zu wenig Arbeit?

'Unserer Gesellschaft geht die Arbeit aus', rufen seit etwa 25 Jahren die Sozialwissenschaftler als handle es sich um ein Bergwerk, das erschöpft ist. Sie bemühen sich, einen Gesellschaftszusammenhalt anders zu finden, nicht über Arbeit, sondern vielleicht über Kommunikation oder über den Konsum und so das Trauerspiel in einem Wellnesscenter zu beenden.

Das Bergwerk als Metapher hat sich seit den Tagen der Jenaer Frühromantik jedenfalls nicht erschöpft. Erschöpft hat sich auch nicht die Prosaik der Marxschen Analyse mit ihren erfrischenden Perspektiven, z.B. auf die Arbeitslosigkeit. Die für das Überleben notwendige Arbeitszeit hat sich eben stark reduziert (notwendige Arbeit). Wer hätte das gedacht? Frigga Haug macht den Mangel an Euphorie bei vielen Menschen angesichts der vielen freien Zeit für viele Menschen an der kapitalistischen Bestimmung der Arbeit als Lohnarbeit fest. Hoffnung auf Anerkennung gibt es nurmehr für die besonders lange Arbeitenden.

So bedeutet Arbeitslosigkeit eine Freisetzung als Beraubung, eine Tragödie diesmal für die Arbeitenden.

Wer wie die deutsche Bundesregierung in dieser Situation an Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit festhalte, so Haug, handle geradezu widersinnig. Immer weniger Hamster rotieren immer schneller, während gleichzeit immer mehr Hamster in den Ecken sitzen und im Fernsehen beobachten, wie dann und wann ein Hamster aus dem Laufrad fliegt.

Die lange Zeit von Hartz IV hat [...] ein Flachland an Resignation und Lähmung hervorgebracht, allenfalls unterbrochen von trotzigen Rufen einiger weniger, dass Arbeitslosigkeit ja das Recht auf Faulheit gewähre. Die Rufe werden in der Bedrohtheit durch die Krise immer leiser. Solidarität schrumpft. Rette sich wer kann.

Frigga Haug sieht die Chance bei Rosa Luxemburg (von der man/frau im Moment nicht weiß, ob sie wirklich in Berlin-Friedrichsfelde begraben ist oder irgendwo umgeht). Die 'sozialen Garantien' des Lebens müssten für alle 'selbstverständlich' sein, um sie in die Lage zu versetzen, sich um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu kümmern, was für Frigga Haug heißt: Politik.

Teilzeitarbeit für alle, um auf die de/zentrale Losung zurückzukommen, macht emanzipations- und gesundheitspolitisch Sinn. Die meisten Teilzeitarbeitsplätze, so eine von ihr aufgeführte Statistik werden von Frauen besetzt, was sie - unter den gegenwärtigen sozialen/sozialpsychologischen Bedingungen - abwertet. Warum müssen sich Frauen als 'Zuverdienerinnen' beschimpfen lassen? Warum arbeiten sich Männer tot, nur um nicht aus ihrer Rolle als familiärer Ernährer zu fallen? Auf den ersten Blick erscheint die Teilzeitarbeit heute als der Inbegriff dessen, was Vollzeitarbeiter fürchten.

Das Leben ist mehr als Erwerbsarbeit - ihre Bedeutung gehört abgewertet.

Es gibt viel Arbeit, die als solche gar nicht an/erkannt wird. Ich sorge mich um Freunde und Angehörige, für das Lebendige um mich. Ist das nicht auch Arbeit? Vom Hausputz nicht zu schweigen. Das Anspielen und Durchspielen von Konfliktsituationen, das Todheitere und Lebensernste des Theaters ist auch ein für Gesellschaften lebensnotwendiger Luxus, der - wie ich aus eigener Erfahrung weiß - sehr viel Zeit und Engagement braucht. Vielleicht muss die Qualität von Arbeit/en anders bewertet werden. Für den Anfang genügt es vielleicht, Situationen daraufhin zu betrachten, was an ihnen Arbeit ist, von wem sie ausgeht und wohin sie führt. Freilich ist es ein Experiment. 'Keine Experimente' ist eine Losung, die eher Angstpolitik beschreibt als irgendetwas anderes. Am Ende von Frigga Haugs Rede kommt das, was immer zu befürchten ist, wenn Hoffnung im Spiel ist. Die Worte gehen ins Ungefähre.


Ähnlich wie John Rawls, der von demokratischen im Unterschied zu anderen politischen Regimen sprach, zielt Frigga Haugs Argumentation auf 'ein neues Zeitregime für unsere Lebensweise'. Der vereinnahmende Plural ihrer ganzen Rede stößt sicherlich so mancher/manchem auf, die/der sich für individuell/unteilbar hält. Bei lebendigem Leib wird niemand gern zerlegt.

Etwas praxisnäher, aber auch perspektivloser, weil journalistischer und systemunkritischer, äußerte sich Kolja Rudzio in der Zeit vom 12. Januar 2010 zur "Arbeitsmarktreform - Rüttgers I statt HartzIV?". Die Selbstverständlichkeit von Worten wie 'Ideologie' und 'Arbeitsmarkt' wird nicht befragt.

| thomas wettengel (c) 2010-01-30 |

2010-01-22

LITERATUR

literatur
blutwurst unserer träume

literatur
mommsen auf dem müllschlucker und
das testament der metzger

literatur
abgehoben mit leichter hand
der unerkannten

literatur
segelnder flug des fensterputzers aus der entfernung beobachtet
oder warum der tiger im tank die blechtrommel doch nicht ersetzt

literatur
die nachdrückliche frage ob man es schriftlich haben will
schiffbruch mir zuschauer

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raumteiler in einem explodierenden universum


| thomas wettengel (c) 2010-01-20 |
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2010-01-19

GESTEN

ich erinnere mich an ein interview, dass ich vor jahren zwei eifrigen, mit einer videokamera ausgerüsteten schülerinnen gab. die frage, soweit ich mich erinnern kann, lautete: was ist schönheit für dich? ich habe der versuchung widerstanden, die frage zu zerpflücken, um zu zeigen, dass ich das abitur bereits hinter mir habe. ich habe sie einfach beantwortet.
meine antwort lautete damals ungefähr so: "ich kann nicht sagen, dass ich diesen oder jenen menschen besonders schön finde. schönheit finde ich in kleinen gesten." als beispiel nannte ich wohl die bewegung eines arms oder etwas ähnliches. das war um das jahr 2005 herum.
es mag zwar allgemeine kriterien geben oder das, was man/frau dafür hält. doch diese kriterien interessieren nicht wirklich. sie helfen niemandem - ausser bestimmten industriezweigen. nennen wir sie den neurotisch-bulämischen komplex (NBK). eine geste ist immer bewegung, nichts eingefrorenes. sie ist ein präsentes dazwischen mit dem versprechen von vernunft, moral oder schönheit. "eine schöne geste", "eine grosse geste" ist ein kompliment, dass jede/r gerne hört.
es gibt auch schiefe gesten. hierzu zählen die ungezählten, ungefragten befreiungsaktionen. hierzu zählt auch der angriffskrieg der usa gegen den irak, also der ungefragte import von freiheit in form von bewaffnetem massentourismus. die so befreiten wollten und wollen sich aber offenbar auch von ihren befreiern befreien. wer hätte das gedacht? schiefe gesten finden sich überall.
eine schiefe geste ist womöglich auch die geldspende für die vom erdbeben traumatisierte haitianische bevölkerung. vor einigen tagen sass ich zusammen mit einer freundin in einem kleinen café im berliner bezirk friedrichshain und fragte sie, ob sie schon für haiti gespendet hätte. sie verneinte. diese antwort bestärkte mich in meinen zweifeln. warum sollte ich spenden? woher weiss ich, wo mein geld ankommt? wie sollte ich das rechtfertigen? und vor wem? "gott ist tot. man hat sein skelett gefunden. es ist 10 kilometer breit und 30 kilometer lang" (heiner müller). ich war allein mit mir und den toten.
und dann habe ich doch gespendet. ich habe den teuersten anruf der letzten zwölf monate getätigt. 5 euro sind dahin. es ist eine geste. es ist keine beruhigende geste. es ist eine schiefe geste. wie sagte ernesto che guevara: "solidarität ist die zärtlichkeit der völker." so war mein anruf als zärtliche geste gerechtfertigt durch das zitat eines toten, der zeit seines lebens erfahrungen mit schiefen gesten gesammelt hat.
vielleicht haben gesten, beispiele und autoritäten etwas gemein. sie sind notwendig, aber schief.

2010-01-12

FRÖHLICHER VIEHTRIEB

so in etwa lässt sich der morgendliche berufsverkehr in berlin beschreiben. schon im u-bahnhof friedrichsfelde fehlen die freundlichen kleinen männer aus tokio mit den weissen handschuhen, die die fahrgäste höflich, aber bestimmt in die waggons pressen. also muss sich der fahrgast in berlin selbst helfen, mit frotzelnden bemerkungen und der gewissheit, dass er wenigstens nicht umfallen kann.
das umsteigen von der u-bahn zur ringbahn der s-bahn am bahnhof frankfurter allee gleicht einem selbstverwalteten viehtrieb, mit einem stau an der treppe zur oberfläche, bei dem es verwunderlich ist, dass niemand zu schaden kommt. 400 menschen trotten und hetzen, alle mit der gleichen geschwindigkeit, nebeneinander her, hinauf zur befreienden oberfläche.
die menschen um mich gleichen nicht dem uniform daherstapfenden figurenornament in fritz langs METROPOLIS, sondern eher dem müde, aber zu anarchischen ausfällen bereiten menschenstrom mit seinen wirbeln und kleinen gegenströmen in slatan dudows KUHLE WAMPE. vor allem aber gleichen sie menschen im berufsverkehr. sie sind nicht mehr zuhause, sie sind noch nicht in der schule oder in ihrer arbeit, sie sind dazwischen. sie sind doppelt dazwischen, zwischen den menschen und zwischen den orten, unterwegs.
im sommer wäre es schlimmer.

de.wikipedia.org/wiki/Metropolis_(1927)
de.wikipedia.org/wiki/Kuhle_Wampe

2010-01-03

THOMAS HARLAN: DIE STADT YS

es ist ein seltsames buch. es ufert aus. es nimmt den leser mit. es nimmt ihn mit hinter die grenzen seiner selbstverständlichkeit. es hat vieles, was von einem buch erwartet wird: zwei buchdeckel, kapitel, wörter, absätze, kapitel, geschichten, figuren. vieles unerwartete, vieles nicht erwartbare kommt auch auf den leser zu: thomas harlan ist nicht an eindeutigkeiten interessiert, nicht an lesebühnenwitzen (die für mehr als zehn leseminuten ohnehin nichts taugen, so wie ponys nichts für polarexpeditionen sind) und runden sachen.

DIE STADT YS ist ein politisches buch. es ist kein schwarz-, sondern eine art graubuch des kommunismus, eines von vielen, von ungezählten möglichen, mögliches und unmögliches beschreibend.

[...] Die schönsten Menschen, denen ich je im Leben begegnet bin, waren Kommunisten. Das stimmt, so wie ich es sage. Es gibt keine Schöneren. Gab keine, wird keine geben, Kommunisten gibt es nicht mehr, sie sind ausgestorben. Etwas, womit ich nicht fertig werde, ist der Unterschied zwischen den Kommunisten und dem Kommunismus. Warum es ihn gibt, begreife ich nicht. Doch er ist da, da ist er: Der Kommunis-|17|mus kann mit den Kommunisten nichts anfangen; sie stören ihn. Weil aber der Kommunismus von Kommunisten gemacht wird und also von denen, die ihn machen, nicht gestört werden kann, wird er eben doch gestört; woraus man den Schluss ziehen muss, dass, wer den Kommunismus, ja, wie soll man das sonst nennen, wer den Kommunismus 'macht', aufhören muss, Kommunist zu sein und sich in eine Sache verwandelt, die gute Sache des Kommunismus; doch wie er dabei den Widerspruch überbrückt zwischen dem Kommunismus, der er ist oder war, und dem Kommunismus, der ihn zum Kommunisten gemacht hat, weiß ich nicht; überbrücken kann man Widersprüche ohnehin nicht, nur auflösen, aber das ginge jetzt zu weit; und wahrscheinlich geht sowieso alles zu weit und wahrscheinlich ist der Tod der Kommunisten, die für den Kommunismus gestorben sind und noch immer sterben, der Tod des Kommunismus, und so sind also die Schönen, die einmalig der besseren Welt ähnlichen, der herrlichen Welt verwandten Wesen einmalig herrlich und der Tod auch der guten Sache und die Sache schlecht und umso schlechter als das Gute noch lange nicht tot. Überbrückt doch, Kinder, um Gottes willen, nichts! Punkt. Absatz. (16-17)

überbrückungen, unterbrückungen sind sache und verfahren dieses buchs. geschichten werden erzählt, wie sie doch keiner glaubt, der schon alles und noch nichts gesehen hat, geschichten aus einem land vor unserer zeit, das zu seiner zeit ein land nach unserer zeit sein wollte, und das von staats wegen abstarb. DIE STADT YS ist auch ein buch über teile der jüngsten russischen geschichte mit ihren ausläufern in die zeiten vor dieser jüngsten zeit.

harlan handelt, das ist sein handeln, schriftlich vom umgang der lebenden mit den toten und vom (mutmasslichen) umgang der toten mit den lebenden und untereinander. harlan liefert die amüsante beschreibung einer internationalen, multikulturellen, aber-, über- und unterwitzigen totenstadt, ohne sich mit billigen witzen aufzuhalten. kalauer nimmt er mit, wenn er sie in seinen grossen wandteppich einweben kann, unseren wandteppich, der vor unserer sehnsucht nach einer anderen welt hängt, oder

[...] hinter einem mit Latten verschalten Jenseits [...] (235)

je nach dem standpunkt.

[thomas harlan: die stadt ys und andere geschichten vom ewigen leben, frankfurt am main: eichborn 2007, 280 seiten, erhältlich bei den amazonen und bibliothekarinnen ihres vertraue[r]ns, !vorsicht - enthält anleitungen zum besonderen gebrauch von honigbienen!]